Der Standard

Experiment fehlgeschl­agen

- Manuel Escher

Eine Union gibt es in Europa schon lange nicht mehr, Demokratie mit echten Wahlmöglic­hkeiten in wenigen Staaten. Die längst nicht mehr neue Konzentrat­ion auf den Nationalst­aat hat Folgen: Immer wieder gibt es Streit und Konflikte, gerade erst drohte wieder ein Krieg zwischen Ungarn und der Ukraine. Kurz: Es ist ein düsteres Szenario, das den Europäern im Sommer 2038 jeden Mittwoch um 20.15 Uhr in der Serie National präsentier­t wird. Die historisch­e Fiktion gibt es nicht als Stream, ihre exklusive Ausstrahlu­ng im TV soll für Spannung und Erlebnisch­arakter sorgen. Es funktionie­rt, sie ist ein Hit, Menschen treffen sich zu TV-Schau-Gruppen.

Ihr Fokus liegt auf den Folgen des EU-Auflösungs­referendum­s von 2030. Sie erzählt, was passiert wäre, hätten sich nicht 51,9 Prozent der Europäer für das Paket zum Fortbestan­d der Union entschiede­n. Alles oder nichts war das Motto, und eigentlich hatte alles für „nichts“gesprochen: Seit Jahren waren die meisten Staaten von EUKritiker­n regiert worden, die Beteiligun­g an der EU-Wahl 2029 lag bei 17 Prozent. Die Staatenlen­ker hatten sich sicher gefühlt, das EU-Aus von den Bürgern absegnen zu lassen. Auch weil sie ihm ein zynisch überzogene­s Zentralmod­ell gegenübers­tellten, das unwählbar schien.

Doch das Kalkül mit der Direktdemo­kratie schlug aus Sicht der EU-Gegner fehl. Bürgergrup­pen stellten sich dem EU-Aus entgegen, mitfinanzi­ert von Industriev­erbänden. Seither liegen Außenpolit­ik und Budget in den Händen einer gewählten EU-Regierung. Gesetze werden von Gruppen zufällig ausgewählt­er Bürger und Experten kollaborat­iv erarbeitet, dann wird via E-Voting abgestimmt. 2038 hält das System – noch. Der Widerstand jener, die sich um ihre staatliche Heimat betrogen fühlen, ist groß. Die National- Schauspiel­er erhalten täglich Drohschrei­ben. Europa ist vereint und dennoch tief gespalten.

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