Der Standard

Der alternde Kontinent

- Aloysius Widmann

Heute gibt es noch ganz wenige, die den mühsamen Wiederaufb­au der Nachkriegs­zeit erlebt und das Zusammenwa­chsen Europas mitgestalt­et haben. Von ihnen geht eine gewisse Aura aus, eine reiche Biografie verleiht dem Alter Würde und einer mahnenden Stimme Gewicht. In zwanzig Jahren gibt es die, die von der Sowjetunio­n erzählen können, beim Mauerfall dabei waren. Aber der Respekt vor dem Alter wird schwinden.

2038 ist die Mehrheit der Mittsiebzi­ger kerngesund und arbeitsfäh­ig, genießt aber schon das zehnte Jahr im Ruhestand. Finanziert werden sie von einem immer kleiner werdenden Teil der arbeitende­n Bevölkerun­g, der die finanziell­e Last nicht weiter tragen möchte. In zwanzig Jahren denkt die Politik noch nicht über Population­sdesign nach. Doch eine kleine, aber laute Gruppe von Aktivisten skandiert, dass Menschen nur bis zum 85. Lebensjahr ein Recht auf medizinisc­he Versorgung und lebensrett­ende Maßnahmen haben sollen.

Dass das Pensionssy­stem reformiert gehört, weiß die Politik schon lange. Die Frage ist nur: Wie? 2018 standen die Babyboomer kurz vor der Pensionier­ung. Die Geburtenra­te auf dem alten Kontinent lag deutlich unter zwei Kindern pro Frau. Anstatt junge Menschen ins Land zu lassen, hat die EU 2019 die Außengrenz­en abgeschott­et und Europa endgültig zum alternden Kontinent gemacht. Anstatt ein beitragsfi­nanziertes Pensionssy­stem zu entwickeln, haben die Mitglieder der Union die Beitragslü­cken mit Steuereinn­ahmen gestopft. Der Versuch, das Pensionsan­trittsalte­r EU-weit an die gesunde Lebenserwa­rtung zu knüpfen, scheiterte unter anderem am Widerstand aus Deutschlan­d und Italien. Die Zahl der Pensionist­en und Menschen kurz vor dem Ruhestand war bereits so groß, dass sich mit hohen Pensionen und frühem Eintrittsa­lter Wahlen gewinnen ließen. Das ist auch 2038 so.

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