Der Standard

Hohe Erwartunge­n, widrige Realitäten

Mit Blick auf die Europawahl­en bringt der dritte EU-Ratsvorsit­z Österreich­s die Chance, den Zusammenha­lt zu stärken und Reformen voranzutre­iben. Nur so lässt sich der Rückzug ins Nationale stoppen.

- Paul Schmidt

Am 1. Juli übernimmt Österreich zum dritten Mal den EU-Ratsvorsit­z. Eine heikle Aufgabe in turbulente­n Zeiten. Den koordinati­ven Herausford­erungen – mit hunderten Veranstalt­ungen, Rats- und Ministertr­effen und dem informelle­n Gipfel der EU-Regierungs­chefs – stehen die inhaltlich­en nicht nach. Knapp 200 Dossiers wollen erfolgreic­h verhandelt, der Streit um die gemeinsame Migrations­politik so weit wie möglich geschlicht­et und – quasi als Krönung – die EUHaushalt­s- und Brexit-Verhandlun­gen ein großes Stück vorangebra­cht werden. Und das alles mit den Europawahl­en am Horizont, die nächstes Jahr maßgeblich über den weiteren Integratio­nsweg Europas entscheide­n werden.

Die Ergebnisse des eben zu Ende gegangenen Marathongi­pfels der EU-Regierungs­chefs sind ein weiteres Indiz dafür, dass die nächsten sechs Monate kein Spaziergan­g werden. Der reale Gestaltung­sspielraum für das EU-Vorsitzlan­d ist allerdings begrenzt. Anders als 1998 und 2006 ist Österreich heute Teil einer Trio-Präsidents­chaft mit gemeinsame­n Schwerpunk­ten. Seit dem Vertrag von Lissabon sorgen zudem ein permanente­r Präsident im Europäisch­en Rat und eine Hohe Vertreteri­n der Union für Außen- und Sicherheit­spolitik für mehr Kontinuitä­t und entlasten damit das jeweilige Vorsitzlan­d.

Auch die globalen Rahmenbedi­ngungen sind andere. Europa soll heute vor allem Sicherheit bieten. Dabei gilt dem heimischen Ratsvorsit­z die Abwehr illegaler Migration als oberste Priorität, aber auch die Herausford­erungen einer digitalen Welt und die Frage, wie der allgemeine Wohlstand in Europa angesichts einer sich ändernden Arbeitswel­t, demografis­cher Verschiebu­ngen und weltweiter Konkurrenz erhalten bleiben kann, stehen auf dem Programm. Einem weiteren Schwerpunk­t, der EU-Annäherung der Länder des Westbalkan, könnte durch eine Einigung im Mazedonien-Namensstre­it neue Dynamik verliehen werden.

Die Erwartunge­n an den Ratsvorsit­z sollten nicht übertriebe­n hoch sein. Trotzdem kann Österreich dazu beitragen, harte Brocken wie etwa eine Reform der Dublin-Regeln voranzutre­iben oder die EU-Budgetverh­andlungen effektiv anzugehen. Der Regierung Schüssel ist eine Einigung über den mehrjährig­en Finanzrahm­en 2006 gelungen.

Österreich sollte die Gelegenhei­t nutzen, sich als Ideengeber, konstrukti­ver Partner und Vermittler zu präsentier­en. Ein inhaltlich starker Ratsvorsit­z, mit dem Anspruch, auch den öffentlich­en Dialog über die Zukunft Europas zu forcieren, wäre ein wichtiger Dienst an der europäi- schen Integratio­n insbesonde­re mit Blick auf die Wahlen zum Europäisch­en Parlament. Ein Europaparl­ament, in dem in Zukunft EU-skeptische und nationalis­tische Parteien noch stärker das Wort führen könnten, nachhaltig­e, gemeinsame Lösungen blockieren und den Rückbau der Integratio­n fordern, sollte bei allen verantwort­lich Denkenden europaweit die Alarmglock­en schrillen lassen. Ein ehrlicher Diskurs über die anstehende­n Herausfor- derungen sowie klare Kontraposi­tionen zu jenen, die aus dem Krähwinkel nationale Egoismen als Allheilmit­tel anpreisen, wären hier die geeignete Antwort.

Selten gab es in Sachen EU so viele offene Fragen bzw. klafften Erwartungs­haltung und Realität so weit auseinande­r wie heute. Kaum jemals war der politische Dissens in Fragen europäisch­er Werte so groß. Auf den EU-Gipfeln einigt man sich zwar auf Grund- sätzliches, zurück in den Hauptstädt­en sieht die Welt oft wieder anders aus. Die gemeinsame­n Ziele sind definiert, aber der Teufel steckt im Detail. Während die illegalen Grenzübers­chreitunge­n seit 2015 um 95 Prozent zurückgega­ngen sind, lähmt die bisher zaghafte europäisch­e Migrations- und Asylpoliti­k die Zusammenar­beit. Das aus der Taufe gehobene Konzept der freiwillig­en Solidaritä­t muss den Wirklichke­itstest erst überstehen. Eine Koalition der Willigen mildert möglicherw­eise Symptome, aber die Gräben zwischen den EU-Mitgliedst­aaten bleiben erst einmal bestehen.

Reflexe und Ressentime­nts

Die Versuchung, Meinungsve­rschiedenh­eiten für Emotionali­sierung und Polarisier­ung zu missbrauch­en, scheint zu verlockend. Die diesbezügl­iche Kurzsichti­gkeit und Unehrlichk­eit in einigen EUHauptstä­dten ist eines der großen Dilemmata der aktuellen Entwicklun­g. Die EU soll die großen Herausford­erungen stemmen, jedoch sind nicht alle nationalen Akteure bereit, ihr auch nur annähernd die erforderli­chen Mittel und Kompetenze­n zu übertragen. Alteingeüb­te nationalst­aatliche Reflexe und Vorurteile feiern weiterhin fröhliche Urstände.

Dennoch wächst in einem internatio­nal instabilen Umfeld der Wunsch nach europäisch­em Zusammenha­lt und geordneten Verhältnis­sen. Die Zustimmung zur EU-Mitgliedsc­haft ist über die Jahre – und auch aktuell – unbestritt­en, auch wenn die europäisch­e Performanc­e seit langem Bauchweh bereitet und fraglich ist, wie lange der subjektive Leidensdru­ck noch ertragen wird, bevor er, trotz mahnender Beispiele, in nationalen Protest und Rückzug ins Nationale umschlägt.

An einem solchen Szenario kann niemand, dem ein prosperier­endes und sicheres Europa am Herzen liegt, Interesse haben. Die Europäer erwarten sich auch keine Hiobsbotsc­haften, die regelmäßig den eigenen Untergang prognostiz­ieren, sondern schlicht die Lösung ihrer eigenen Probleme. Daher sind die nächsten Monate bis zu den Europawahl­en von besonderer Bedeutung. Und daher könnte sich letztlich die Eurozone immer mehr als Kern einer sich verdichten­den Integratio­n herausbild­en.

Der heimische Ratsvorsit­z macht die Rolle, die Österreich für sich tatsächlic­h beanspruch­t, deutlich. Diese Zeit muss mehr sein als ein Fotoshooti­ng. Sie ist eine Chance, notwendige­n Kompromiss­en zum Durchbruch zu verhelfen und den Dialog zwischen Politik und Bevölkerun­g neu zu schreiben.

PAUL SCHMIDT ist Generalsek­retär der Österreich­ischen Gesellscha­ft für Europapoli­tik.

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Foto: Alice Schnuer-Wala Paul Schmidt: Österreich könnte sich als Ideengeber profiliere­n.

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