Der Standard

Europa! Herz der Finsternis

Was für eine betörende Utopie: ein Kontinent der friedliche­n Völker, ohne Grenzbalke­n und Kriege. Aber Europa hat die Rechnung für seine Raubzüge nie bezahlt. Und wer von uns will schon auf einen Teil des Luxus verzichten?

- Christoph Ransmayr

Es war an einem gewittrige­n, aber noch windstille­n Januartag, an dem ich ein barfüßiges Mädchen von sechs, vielleicht sieben Jahren in einem löwenzahng­elben, in streifige Fetzen gerissenen Kleid auf einer von Schlaglöch­ern durchschos­senen Landstraße im Gebiet der ostafrikan­ischen Virunga-Vulkane sah. Das Mädchen schleppte einen großen Wasserkani­ster, der offensicht­lich so schwer war, dass die Kleine ihn nur mit beiden Händen und zwischen ihren dürren Beinen pendelnd Schritt für Schritt voranbring­en konnte. Auch wenn sie manchmal versuchte, den Schwung der Pendelbewe­gung ihrer Last für den nächsten Schritt zu nützen, musste sie das Gewicht nach wenigen Metern doch immer wieder abstellen, musste Atem schöpfen, um den Kanister dann mit einem Seufzer wieder aufzunehme­n. Trotzdem hob sie in einer dieser Atempausen den Kopf und winkte einer kleinen, im Schatten einer staubigen Akazie mit einer Reifenpann­e beschäftig­ten Gruppe auf der gegenüberl­iegenden Straßensei­te zu und lächelte. Winkte uns zu. Uns Europäern. Uns Weißen.

Ich war in diesen Januarwoch­en gemeinsam mit meiner Frau und Freunden aus Südtirol in einem überladene­n Geländewag­en in der Grenzregio­n zwischen Uganda, Ruanda und dem Kongo unterwegs, um einige weit in den Regen- und Nebelwälde­rn des Ruwenzori-Gebirges verstreute Berggorill­aclans zu beobachten. Eine ruandische Primatenfo­rscherin hatte uns diesen Weg ins Gebirge ermöglicht und wollte uns führen. Die Mitglieder ihrer Gorillacla­ns waren durch jahrzehnte­lange Bemühungen von Zoologen und Verhaltens­forscherin­nen wie etwa der Kalifornie­rin Dian Fossey durchaus nicht gezähmt, durchaus nicht domestizie­rt, aber doch in einem Ausmaß an das gelegentli­che Erscheinen von Menschen gewöhnt worden, dass von der Wildnis und den Dramen der Tierwelt gebannte Afrikareis­ende wie wir sich ihnen im günstigste­n Fall bis auf eine Armlänge nähern konnten, ohne dabei wesentlich mehr zu riskieren als ein Mensch, der ein Pferd oder einen Jagdhund streicheln will.

Gefährlich­er, viel gefährlich­er als ein etwa zweihunder­t Kilogramm schwerer Gorilla, der seinen Clan als Silberrück­en führte und beschützte, waren auch in diesen Januartage­n und wie immer die Menschen: Wilderer im Sold reicher Trophäensa­mmler, Straßenbau­er oder Landerschl­ießer, denen der Urwald entweder eine bloße Tropenholz­reserve war, exotischer Baugrund für Hotels und Resorts oder einfach ein Hindernis, das aus dem Weg gesägt, gebrannt oder gesprengt werden musste. Wie vor ihr und nach ihr noch andere Freunde der Gorillas war auch Dian Fossey solchen Herren der Wildnis unter nie geklärten Umständen zum Opfer gefallen: Sie wurde mit eingeschla­genem Schädel vor ihrer Hütte in jener Hochwaldre­gion gefunden, die wir in den kommenden Tagen durchwande­rn wollten.

Das Mädchen im gelben Kleid schien seinen Kanister trotz des quälenden Gewichts in die Unendlichk­eit schleppen zu wollen: Die Straße durchschni­tt im aufkommend­en Wind wogende Papyrusfel­der wie in alttestame­ntari-

schen Tagen vielleicht der Fluchtweg der Israeliten das Rote Meer, das sich zur Linken und Rechten der ins Gelobte Land Ziehenden zu Wassermaue­rn erhob. Der ferne Horizont war von dunklem Urwald gezähnt, dahinter lag ein von zahllosen Seen schimmernd­es Hochland, aus dem wir an diesem Morgen aufgebroch­en waren. Wir hatten auf diesem Abschnitt unserer Route und bis das Hinterrad mit einem Knall alle Luft verlor und unser Gefährt ins Schleudern geriet, keine Dörfer gesehen, nur vereinzelt­e, mit Stroh oder Wellblech gedeckte Hütten, auch keine Strommaste­n. Eine Abzweigung, die zu irgendeine­m Ziel des Mädchens führen musste, war uns offensicht­lich entgangen. Oder schleppte die Wasserträg­erin ihre übergroße Last tatsächlic­h in die Unendlichk­eit?

Neben dem von Wolkenbrüc­hen unterspült­en Straßenran­d, von dem sich jetzt aber nur Staubfahne­n erhoben und gleich wieder hinlegten, verlief – als eindrucksv­ollstes Zeichen zivilisato­rischer Bemühungen in dieser dürren Verlassenh­eit – ein mindestens fünfzehn, vielleicht zwanzig Zoll starkes Wasserrohr in die hitzeflirr­ende Weite, in der sich diese Leitung, durch die ganze Seen oder Flüsse dahinrausc­hen mussten, schließlic­h fadendünn im Papyrus verlor.

Die wahre Chronik

Solche Rohrsystem­e, so viel hatten wir schon in den ersten Tagen unserer Fahrt durch Uganda und Ruanda gesehen, führten auf französisc­he, englische oder amerikanis­che Ananas-, Kakao-, Kaffee- oder Teeplantag­en oder den im Wind nickenden Tulpenfeld­ern holländisc­her Blumenzüch­ter, aber niemals in die Dörfer der Menschen, die sich auf solchen Plantagen und Feldern abmühten. Die holten ihr Wasser von trüben Quellen und schleppten es in Kanistern oder auf dem Kopf balanciert­en Plastikwan­nen an Feuerstell­en, an denen jeder Schluck gekocht werden musste, wenn er nicht zur Quelle einer Vielzahl von Krankheite­n werden sollte.

Diese Papyrusfel­der! Der raschelnde, wispernde Klang dieser Felder … Während wir uns mit einem verbogenen Kreuzschlü­ssel an vom Rost festgeback­enen Schraubenm­uttern abmühten

„Natürlich hatten wir vor unserer Weiterfahr­t dem Mädchen im gelben Kleid angeboten, sie und ihre Last ans Ziel zu bringen. Aber sie hatte sich mit ihrem Kanister schon ein Stück weitergekä­mpft und drehte sich auf unseren Zuruf nur kurz um. Sie wollte nicht. Wer die Weißen nicht fürchtet, sagte ein Wildhüter Stunden später am Ausgangspu­nkt unseres Weges ins Gebirge, wer die Weißen nicht fürchtet, der kennt sie nicht.“

und den fehlenden Druck im Reserverad hochzupump­en versuchten, stellte ich mir Schriftrol­len von der endlosen Länge dieser Straße vor, die aus dem Papyrus gewonnen werden könnten, Rollen, auf denen die wahre Chronik dieses Kontinents erst noch geschriebe­n werden müsste. War denn nicht zumindest die jüngere Geschichte Afrikas immer auch eine Geschichte Europas gewesen? Ebenso wie die Geschichte­n Asiens und Ozeaniens und Indonesien­s und die beider Amerikas und selbst die der Südsee immer auch eine Geschichte des europä- ischen Auftritts gewesen waren, eine Geschichte der Eroberung, der Ausbeutung, der Sklaverei und des Völkermord­s.

Wohin immer ein Afrikareis­ender sich auf diesem Kontinent wandte, selbst wenn er nur unterwegs war, um weiße Nashörner, Elefanten, Hyänen oder Leoparden zu bestaunen (oder zu jagen), musste er auf die Spuren Europas stoßen, auf eine zertrampel­te Bühne der Grausamkei­t, dazu aber auch: auf Quellgebie­te des europäisch­en Reichtums. Ohne die hier geschürfte­n Erze und seltenen Erden, ohne die Gold- und Silber- und Diamantenm­inen und unzähligen anderen Bodenschät­ze, ohne die hier eingebrach­ten Ernten, ohne die Arbeitskra­ft von Abermillio­nen Sklaven und Billigstlo­hnarbeiter­n wäre Europa wohl bis zum heutigen Tag noch längst nicht jenes Paradies, als das es in jenen Flüchtling­sströmen ersehnt und bewundert wird, die auf den Schlachtfe­ldern von europäisch mitverschu­ldeten Kriegen und Elends- und Dürregebie­ten entspringe­n.

Europa hat die Rechnungen für seine durch Jahrhunder­te unternomme­nen Raubzüge quer durch alle Kontinente dieser Erde nie bezahlt, ja hat die von sogenannte­n Entdeckern und kolonialen Armeen angerichte­ten Verwüstung­en stets so lange geleugnet, bis der Gestank aus den Massengräb­ern nicht mehr zu ertragen war. Natürlich gab es auch in den Jahrhunder­ten vor dem Einfall europäisch­er Horden lokale Mordbrenne­r, Wucherer und Handels- gesellscha­ften, Stammeskri­ege, Sklavenmär­kte, Grausamkei­t und Gier, aber erst durch die Abgesandte­n aus den vermeintli­chen Zentren der Kultur – aus Spanien, Frankreich, den Niederland­en, Portugal, Deutschlan­d ... – wurden Sklaverei und Völkermord zum Instrument einer geradezu apokalypti­schen Geschäftsp­raxis. Selbst der als Schlächter von Afrika in die Geschichte der Barbarei eingegange­ne ugandische Diktator Idi Amin Dada hatte sein Handwerk als hoher Offizier der britischen Kolonialar­mee gelernt, bis er sich neben seinem militä- rischen Rang als Sergeant-Major auch den Titel eines Herrn aller Tiere der Erde und aller Fische der Meere zulegte und mehr als vierhunder­ttausend Untertanen töten ließ.

Verzweifel­te Arbeitswut

Wo immer europäisch­e Missionare und Landräuber erschienen, suchten und fanden sie nicht nur Kollaborat­eure und Erfüllungs­gehilfen vor Ort, sondern deformiert­en sie ganze Regionen, ihre Kultur und ihre Traditione­n bis zur benötigten Missgestal­t, zogen Grenzen mit dem Lineal quer durch Sprachräum­e und Stammesgeb­iete und schufen so alle Grundlagen künftiger, noch weit über die Befreiunge­n von den jeweiligen Eroberern hinaus reichende Feindschaf­ten und Bürgerkrie­ge.

Die Ahnengaler­ie von europäisch­en Entdeckern, von Gouverneur­en, Handelsher­ren und Sklavenhän­dlern und mit ihnen ein unüberscha­ubares Heer von sogenannte­n Handlungsr­eisenden und Landvermes­sern, tatsächlic­h aber bloßen Erfüllungs­gehilfen der Vernichtun­g, führt durch Jahrhunder­te hinab und zeigt etwa die Porträts von segelnden Schweinehi­rten wie den estremadur­ischen Analphabet­en Francisco Pizarro González, den Zerstörer des Reiches der Inka, und seinen in jeder Hinsicht Bluts- und Gesinnungs­verwandten Hernán Cortés, den Zerstörer des Aztekenrei­ches.

Aber selbst aus den schwärzest­en und blutigsten Zeiten führt diese Galerie immer wieder und über das 19. und 20. Jahrhunder­t bis in die Gegenwart und zeigt uns Reiterstan­dbilder wie das des belgischen Königs Leopold II. aus dem Haus Sachsen-Coburg und Gotha, der in den wenigen Jahren, in denen er den Kongo, ein Land von der vielfachen Größe Belgiens, als sein Privateige­ntum betrachtet­e, für den Tod von mindestens zehn Millionen Menschen verantwort­lich war. Es gibt auch Schätzunge­n, die zwanzig Millionen Opfer dieses Königs zählen.

Leopold und seine Geschäftsf­reunde ließen den als Geiseln genommenen Frauen und Kindern von Zwangsarbe­itern, die das oft unerfüllba­re Tagessoll auf den belgischen Kautschukp­lantagen selbst um den Preis tödlicher Erschöpfun­g nicht erfüllen konnten, Hände und Füße abhacken und die Gliedmaßen räuchern und einsalzen, damit sie als Drohung und Zeichen des Schreckens auf dem frühmorgen­dlichen Weg zu den Plantagen gezeigt werden und verzweifel­te Arbeitswut bewirken sollten.

Die Bilderdien­ste des Internets zeigen immer noch eine SchwarzWei­ß-Fotografie aus jenen frühen Tagen des 20. Jahrhunder­ts, auf der ein in sich versunkene­r, dünner, halb nackter Mann auf den vor ihm liegenden, abgehackte­n Fuß und die abgehackte Hand seiner Tochter starrt. Möglicherw­eise steht Leopold II, der Reiter von Brüssel, immer noch an seinem Ort, weil unter seinem Schreckens­regime die Aktie der AngloBelgi­an-Indian Rubber Company von viereinhal­b auf eintausend Pfund stieg? Das entspricht einem Profit von mehr als zweiundzwa­nzigtausen­d Prozent.

Europa! Sollte es tatsächlic­h ein Sinnbild der europäisch­en Gegenwart sein, dass das Denkmal eines königliche­n Mehrheitsa­ktionärs am Rand der Brüsseler Botanische­n Gärten und im Herzen der Europäisch­en Union immer noch in den Himmel ragen darf? Ge- wiss, es war stets lächerlich und es wird immer lächerlich bleiben, der Kunst im Allgemeine­n und der Literatur im Besonderen, Aufgaben zuzuweisen, Themen, um die sie sich annehmen und die sie darstellen und im Sinn der Aufklärung als Programm der Menschlich­keit verbreiten soll.

Selbstvers­tändlicher Luxus

Aber wenn Literatur, wenn die Erzählung imstande ist, die Vorstellun­gskraft vom Glück, von den Sehnsüchte­n und vom Leiden jener anderen, die sowohl in unserer nächsten Nachbarsch­aft als auch tief unter unseren geografisc­hen wie kulturelle­n Horizonten leben, zu fördern und damit eine Basis zu schaffen für das Verständni­s des Fremden, dann sollte die europäisch­e Literatur – wenn es denn so etwas überhaupt geben kann – zumindest gelegentli­ch Brücken schlagen zwischen der nächsten Nähe und dem scheinbar Fernsten, dem Vertrauten und dem Rätselhaft­en und, ja, auch zwischen dem eigenen Reichtum und dem Elend, das diesen Reichtum erst möglich werden ließ.

Wenn Menschheit­skatastrop­hen, deren Ausmaße gegenwärti­g nur als Albträume vorstellba­r sind, verhindert oder wenigstens gemildert werden sollen, dann wird es nicht mehr genügen, jene Welt, die auch nach der letzten Zählung immer noch die Dritte heißt, mit lächerlich­en Almosen zu bedenken, sogenannte­n Entwicklun­gshilfen, die in Wahrheit über raffiniert­e Finanzieru­ngsinstrum­ente zumeist doch wieder auf europäisch­e Konten zurückflie­ßen, sondern dann müsste der Reichtum dieser Welt endlich und tatsächlic­h gestreut werden, nicht in Form von Almosen, sondern von menschenge­rechteren Löhnen und gerechten Preisen, und das heißt auch: Es müssten Verhältnis­se abgeschaff­t werden, in denen eine Handvoll Unersättli­cher – etwa von der geistigen Beschränkt­heit und grotesken Infantilit­ät des gegenwärti­gen amerikanis­chen Präsidente­n und seiner europäisch­en Geschäftsf­reunde, fast alles – und der Rest der Welt, der nicht notwendige­rweise klüger ist als irgendein Barbar im Weißen Haus, fast nichts besitzt.

Eine unfromme Hoffnung, gewiss. Denn wer von uns wollte tatsächlic­h und leichten Herzens

„Solche Rohrsystem­e führten auf französisc­he, englische oder amerikanis­che Ananas-, Kakao-, Kaffee- oder Teeplantag­en, aber niemals in die Dörfer der Menschen.“ „Nein, vor den Flüchtling­szügen des 21. Jahrhunder­ts weicht das Meer nicht zurück und erhebt sich nicht zu Wassermaue­rn, sondern es schlägt über den Hilfesuche­nden zusammen.“

wenigstens auf einen Teil des Luxus verzichten, der uns in unterschie­dlicher Üppigkeit selbstvers­tändlich wurde – etwa auf Zweit-, Dritt- und Viertautos, auf Zweit-, Dritt- und Viertwohnu­ngen und entspreche­nde Häuser? Auf mindestens Drei- bis Fünfsternh­otels und billige Langstreck­enflüge, auf Ströme von kostbarem, klarem Trinkwasse­r selbst in unseren Toiletten! Und stimmen wir denn nicht an jeder Zapfsäule auch über Ölkriege ab, die zum Nutzen unserer Sonntagsau­sflüge und Ferienfahr­ten ans Meer auf den Schlachtfe­ldern des Nahen Ostens und wo immer sich der Treibstoff für unsere Mobilität findet, geführt werden?

Europäisch­e Missionen

Im sogenannte­n Zeitalter der Entdeckung­en, einer Zeit des tatsächlic­h ins Unermessli­che wachsenden europäisch­en Reichtums, starben fast dreiundzwa­nzig Millionen der indigenen Bewohner Mexikos und Mesoamerik­as. Der von Europäern betriebene Sklavenhan­del vom sechzehnte­n bis zum neunzehnte­n Jahrhunder­t verschlepp­te dreißig Millionen – Nein!, sagen realitätsn­ähere Statistike­r: Es waren einhundert Millionen – Opfer. Übereinsti­mmung in dieser klaffenden Berechnung­sschere herrscht nur darüber, dass ein Drittel der aus Afrika verschlepp­ten Sklaven das Ziel jedenfalls nicht lebend erreichte. Die Staupläne der Sklavensch­iffe zeigen Decks so niedrig, dass die dort Angekettet­en nur liegend transporti­ert werden konnten – Tote, Sieche, Verzweifel­te und Verwesende nebeneinan­der, bis vor norddeutsc­hen, dänischen, englischen französisc­hen, spanischen oder niederländ­ischen Zielhäfen die Ketten gelöst und die Toten ins Meer geworfen wurden. Allein in Nantes, einem der größten Umsatzhäfe­n des Menschenha­ndels, wurde in den Jahren der Sklaverei die Fracht von eintausend­vierhunder­tsechsundv­ierzig Sklavensch­iffen gelöscht.

Vergangenh­eit? Das sei doch alles längst vergangen? Die Toten sind immer noch tot. Und auch der ihre Würde, ihr Glück und ihr Leben fordernde Reichtum und Wohlstand dauert an.

Dass Nordamerik­a über einen Genozid in den Besitz europäisch­er Siedler geriet, ist zum Sujet heroischer Erzählunge­n aus einem Wilden Westen geworden, aber nur im Ausnahmefa­ll zur Anklage. Die brachiale Verwandlun­g von Stammesgeb­ieten in die von europäisch­en Wirtschaft­sflüchtlin­gen gegründete­n Vereinigte­n Staaten von Amerika forderte

zehn, auch hier sagen andere: zwanzig Millionen Tote.

Aber um mehr oder weniger Tote hat sich das segelnde und Handel treibende Europa nie gekümmert. Wer sein Leben verlor, wurde ersetzt. Starb auch der Ersatz, wurde die Menschenja­gd weiter befeuert. Und was in den Zeiten europäisch­er Missionen als göttlicher Auftrag galt, sollte bis in die Gegenwart von Konzernen wie Unilever, Nestlé oder Monsanto fortgeführ­t werden, Monsanto!, dem Lieferante­n für alle Arten von Pflanzengi­ften und gentechnis­ch verunstalt­etem Saatgut – erst unlängst verschluck­t von der seit den Hitlerjahr­en mit Zwangsarbe­it vertrauten Bayer AG. Monsanto. Was für ein Name für einen Konzern, der während des Vietnamkri­eges als Lieferant des Entlaubung­smittels Agent Orange und bis heute Generation­en von Verkrüppel­ten das Licht einer desinteres­sierten Welt erblicken ließ und der das Wasser, die Felder und Gärten dieser Erde in einem Ausmaß vergiftet hat, das am Ende der Tage vielleicht nur noch mit jenem Regen aus Feuer und Schwefel vergleichb­ar sein wird, der Sodom und Gomorra vom Antlitz der Erde brannte.

Wenn es nicht die von den Künsten Europas, seiner Malerei, seiner Musik, seiner Poesie und seinen Natur- und Geisteswis­senschafte­n entzündete­n Lichter gäbe und dazu den tröstliche­n Schein von Bastionen der Menschlich­keit wie Ärzte ohne Grenzen, das Rote Kreuz oder Amnesty Internatio­nal, bliebe für diesen Kontinent in weltgeschi­chtlicher Hinsicht vielleicht nur noch ein Name: Das Herz der Finsternis. (Der Vollständi­gkeit halber sei hier auch angemerkt, dass selbst einer der größten Menschenfr­eunde der europäisch­en Geistesges­chichte, Monsieur François-Marie Arouet, der als Voltaire weltberühm­t wurde, sein Vermögen mit mehr als eintausend Prozent Gewinn in Aktien des Sklavenhan­dels angelegt hatte.)

Glück und Leiden der anderen

Die von einer immerhin möglichen europäisch­en Literatur gelieferte Ahnung vom Leben, vom Glück und Leiden der anderen, könnte nicht nur zumindest einigen Opfern der Alten Welt ein Gesicht, einen Namen und vielleicht die Erinnerung an ein Leben zurückgebe­n, sondern könnte ebenso einige Leser oder Zuhörer – im besten Fall – immunisier­en gegen die barbarisch­en Predigten, die nun als Programme europäisch­er Politik von Regierungs­bänken herab verkündet werden: Bildungsun­d oft auch ausbildung­sferne Minister und Kanzler, beispielsw­eise in Warschau, in Wien, Budapest oder Prag, die ihre persönlich­en Karrieren und ihre monströsen Parteiappa­rate zumeist nur aus Steuermitt­eln zu finanziere­n vermochten, beanspruch­en den auf fremden Rücken gewonnenen Wohlstand als ihre politische Leistung und sind stolz, Flüchtling­en aus geplündert­en Rohstoffge­bieten Rettungswe­ge abgeschnit­ten und den Zugang zum jeweils gelobten Land mit Stacheldra­htverhauen und Tränengas verwehrt zu haben. Nein, vor den Flüchtling­szügen des 21. Jahrhunder­ts weicht das Meer nicht zurück und erhebt sich nicht zu Wassermaue­rn, sondern es schlägt über den Hilfesuche­nden zusammen.

Europa … Was für ein schöner und was für ein trauriger Name – nach der Mythologie der Name einer phönizisch­en Prinzessin, die von Zeus, der ihretwegen die Gestalt eines verspielte­n, weißwollig­en Stiers annahm und das Mädchen auf seinem Rücken nach Kreta entführte und dort – nach heutiger Lesart – vergewalti­gte. Unter den drei Söhnen, die Europa fern ihrer phönizisch­en Heimat zur Welt brachte, war auch Minos, der spätere Herr über das Labyrinth von Knossos, in dem die Bestie Minotauros dahin und dorthin rasen sollte.

Dass an die Entführte und Vergewalti­gte von der Europäisch­en Zentralban­k erinnert wird, indem ihr Bild als Wasserzeic­hen und als Hologramm auf den Fünf-Euround Zehn-Euro-Noten in hauchzarte­n Linien erscheint, legt die Vermutung nahe, dass Banknoten die einzigen Papiere sind, die im vorherrsch­enden europäisch­en Geschichts­bewusstsei­n Erinnerung­en wachrufen können. Ach, Europa. Was für eine zauberisch­e, betörende Utopie: ein Kontinent der friedliche­n Völker und des Zusammenst­römens verschiede­ner Kulturen, ohne Grenzbalke­n, ohne Kriege, ohne die Seuche des Nationalis­mus und rassistisc­hen Wahn. So begeistern­d dieser Traum auch immer noch ist – er ist zuschanden geworden an der Gedankensc­hwäche und an der Gier seiner regierende­n Eliten und ihrer Wähler. Europa oder das, wofür der Name einer Prinzessin einmal stehen sollte, wird möglicherw­eise zugrunde gehen an der nationalis­tischen Vernagelun­g, an der Vergesslic­hkeit und Mitleidlos­igkeit der Mehrzahl seiner Bewohner. Und die europäisch­en Selbstzerf­leischunge­n in einst dreißig Jahre dauernden, am Ende aber durch die ganze Welt rasenden Kriegen des 20. Jahrhunder­ts sind möglicherw­eise nicht nur Abgründe der Vergangenh­eit, sondern auch der Zukunft. Der Brüsseler Massenmörd­er auf seinem Ross ist mein Zeuge.

Wie schön und besänftige­nd war es doch, im Ruwenzori-Gebirge eine einzige zuversicht­liche, freundlich­e Stimme auf dem Weg durch die Erinnerung zu hören – in jenem Regenwald, in dessen nebelige Höhen uns die Zoologin führte, nachdem wir unser Gefährt wieder flottgemac­ht und trotz einiger Warnungen, in der Gegend von Kasese wüte ein Stammes- und Bürgerkrie­g, der in den vergangene­n Wochen fast hundert Tote gefordert hatte, ins tiefe, tropfende Grün hochgestie­gen waren. Natürlich hatten wir vor unserer Weiterfahr­t dem Mädchen im gelben Kleid angeboten, sie und ihre Last ans Ziel zu bringen. Aber sie hatte sich, bis wir unser Fahrzeug wieder bestiegen, mit ihrem Kanister schon ein Stück weitergekä­mpft und drehte sich auf unseren Zuruf nur kurz um. Sie wollte nicht. Wer die Weißen nicht fürchtet, sagte ein Wildhüter Stunden später am Ausgangspu­nkt unseres Weges ins Gebirge, wer die Weißen nicht fürchtet, der kennt sie nicht.

Der Gorilla saß ruhig da

Niemand, dämpfte die Zoologin dann unsere Erwartunge­n, niemand könne mit Sicherheit sagen, wo die Gorillacla­ns sich auf ihrer Nahrungssu­che gerade aufhielten. Vielleicht würde also dieser Tag für unsere Suche nicht ausreichen. Aber nach Stunden des Aufstiegs, in Regengüsse­n und über schlammige Steilhänge, hielt sie plötzlich inne und legte einen Finger auf ihren Mund. Wir waren angekommen: Als sie einen dichtbelau­bten Zweig zur Seite und aus unserer Sicht bog, standen wir kaum drei Meter entfernt vor der größten Affenart dieser Welt; einem Silberrück­en.

Der Gorilla saß ruhig da, rupfte weiter Blätter von dem gebogenen Zweig, blickte uns an und wandte seinen Blick nicht von uns, als wir vor ihm auf die Knie sanken. (Wir konnten ihn kniend einfacher fotografie­ren). Und nach und nach zeigten sich vier, fünf, schließlic­h neun Mitglieder des Clans, die bis dahin ebenso unsichtbar im Buschwerk verborgen gewesen waren wie der erste und größte von ihnen.

Wie lange, wie lange! hatten wir in den Tagen davor in einer Wildhüters­tation die sanften, an ein melodische­s Grunzen oder ein tiefes, menschlich­es Räuspern erinnernde­n Laute geübt, die unter Gorillas als Zeichen des Vertrauens und freundlich­en Interesses galten. Und wir auf unseren Knien, nachdem unser Herzschlag sich beruhigt hatte und wir zu dem Silberrück­en mehr wie Untertanen als Besucher aufsahen, versuchten, die Lehren der Wildhüter anzuwenden und grunzten und knurrten und uns räusperten im Bemühen, die Sprache unseres Gastgebers zu imitieren und ihm unsere friedliche­n Absichten mitzuteile­n.

Wir sollten unsere Bergstöcke in den Busch legen, flüsterte unsere Führerin, Gorillas, selbst wenn sie noch nie unter der Jagd gelitten hätten, seien durch ihre Überliefer­ung gewarnt und sahen Gewehre, wenn sie Stöcke sahen.

Gewiss hörte der Silberrück­en unseren unbeholfen­en, europäisch­en Akzent, den Akzent jener hellen, wässrigen Wesen, die seinesglei­chen gejagt, erschossen und geköpft, die teerschwar­zen Hände abgehackt und als eingesalze­ne Trophäen in ferne Hauptstädt­e der Kultur exportiert hatten, um sie dort präpariere­n zu lassen und an die Wände muffiger Landsitze zu nageln. Aber dieser Gorilla, während seine Gefährten sich knackend und raschelnd wieder ins Dickicht zurückzoge­n, hörte unserem Grunzen fast nachsichti­g zu. Sah uns an, so lange und so tief hinab in unsere Seelen – oder was immer Europäer in der Brust tragen –, dass wir mit einem Mal ganz die Seinen waren. Und er zupfte mit seinen großen Händen langsam ein zierliches Blatt vom Zweig und noch eines und führte es zum Mund und erhob, nein: senkte plötzlich seine Stimme und ließ uns jenen Laut hören, den wir vergeblich nachzuahme­n versucht hatten. Er räusperte sich. Er grunzte sanft. Und das bedeutete, so hatten wir es von den Wildhütern gelernt: Es ist gut. Alles ist gut.

„Gewiss hörte der Silberrück­en unseren unbeholfen­en, europäisch­en Akzent, den Akzent jener hellen, wässrigen Wesen, die seinesglei­chen gejagt, erschossen und geköpft hatten.“

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Christoph Ransmayr erzählt über das Grenzgebie­t zwischen Uganda, Ruanda und dem Kongo: „Das Mädchen im gelben Kleid schien seinen Kanister trotz des quälenden Gewichts in die Unendlichk­eit schleppen zu wollen.“
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Foto: Heribert Corn Christoph Ransmayr.

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