Der Standard

Gekommen, um vielleicht zu bleiben

Nach sieben Jahren Bürgerkrie­g im Nachbarlan­d Syrien steht die türkische Integratio­nspolitik vor mehreren Richtungse­ntscheidun­gen. Die jüngsten Flüchtling­e werden mittlerwei­le zu „waschechte­n“Türken erzogen.

- Fabian Sommavilla aus Istanbul

Die el-Alis sind eine typische syrische Flüchtling­sfamilie. Viele ihrer engsten Mitmensche­n kamen im mittlerwei­le sieben Jahre andauernde­n Bürgerkrie­g ums Leben, von den meisten Familienmi­tgliedern wissen sie gar nichts, und drei der vier Kinder sahen die Schrecken der Terrorherr­schaft des „Islamische­n Staats“(IS) mit eigenen Augen. 2013 entschloss­en sie sich zu fliehen und landeten über Umwege und die Stationen Aleppo und Raqqa in einem Vorort Istanbuls.

Drei komplette Jahre wertvoller Schulbildu­ng verlor der älteste Sohn in den Wirren des Krieges, der neunjährig­e Mohammad immerhin noch eineinhalb Jahre. Die Angst vor einer „verlorenen Generation“syrischer Flüchtling­skinder geht um. „Es soll ihnen einfach besser gehen als uns. Mehr können wir in unserem Leben nicht mehr erreichen“, sagen die Eltern Muhammad und Amira el-Ali. „Sie sollen alle einmal studieren, vielleicht sogar Englisch lernen und einen gutbezahlt­en Job bekommen“, sagt Vater Muhammad.

Geld für Bildung

Damit die Kinder auch tatsächlic­h lange genug in die Schule gehen und eine ordentlich­e Ausbildung bekommen, braucht es für Familien in solch prekären Situatione­n Anreize. In Brasilien erkannte man das beispielsw­eise schon Mitte der 1990er-Jahre, als man im Rahmen eines „Conditiona­l Cash Transfer for Education“Programms das Bolsa Escola zunächst auf lokaler und später auf nationaler Ebene ins Leben rief. Die Regeln sind einfach: Besucht ein Kind regelmäßig die Schule, gibt es Geld für die Familie. Rund ein Viertel der brasiliani­schen Bevölkerun­g profitiert heute von den Zahlungen aus dem sozialen Sicherheit­snetz.

Gemeinsam mit Unicef und der EU lancierte die Türkei nun um 84 Millionen Euro ein ähnliches System. 35 Türkische Lira, rund sieben Euro, werden monatlich für Burschen, 40 Lira werden für Mädchen bis zur achten Schulstufe im Zweimonats­abstand auf eine „Cashcard“überwiesen. Im Jänner und September gibt es einen Zuschuss, um die Extrakoste­n am Semesterbe­ginn zu decken. Rund 35.000 Kinder profitiere­n bereits von den Zahlungen. Ab der neun- ten Schulstufe erhöht sich der Betrag, Mädchen bekommen weiterhin ein wenig mehr, denn sie sind besonders gefährdet, früh aus der Schule auszuschei­den. „Es soll ein spezieller Anreiz sein, sie weiterhin in die Schule zu schicken, sie nicht jung zu verheirate­n oder gar der Kinderpros­titution auszusetze­n“, sagt der Unicef-Repräsenta­nt für die Türkei, Philippe Duamelle, dem STANDARD. Die bedürftigs­ten Familien erhalten aus dem sozialen Sicherheit­snetz – mit rund einer Milliarde von der EU mitfinanzi­ert – zudem monatlich nochmals rund 25 Euro pro Kopf.

Flüchtling­skinder sehen sich aber immer wieder mit Mobbing konfrontie­rt – ein Mitgrund für die beträchtli­che Drop-out-Quote mit zunehmende­m Alter. Diskrimini­erung syrischer Kinder seitens türkischer Lehrerinne­n und Lehrer sei laut Bildungs- und Familienmi­nisterium entgegen Berichten dank entspreche­nder Antidiskri­minierungs­gesetze jedoch „inexistent“, sagt ein Ministeriu­mssprecher.

Oft werden Jugendlich­e aber auch schlichtwe­g als Arbeitskrä­fte gebraucht, um die Familie finanziell über Wasser zu halten. Die Hilfsorgan­isationen schreiten dann oft ein, versuchen pädagogisc­h einzuwirke­n und zusätzlich­e, manchmal auch monetäre Anreize zu schaffen. Das gelingt nicht immer, wie ein Besuch in den Schulen zeigt. Zwar schrumpft in den höheren Schulstufe­n die Klassengrö­ße auf sinnvolle 20 bis 25 Schüler, begonnen haben jedoch meist an die 45 bis 50.

Auch die kindliche Fröhlichke­it, wenn nicht ohnehin schon von den Kriegserfa­hrungen zerstört, schwindet mit dem Alter. „Sie denken natürlich darüber nach, was aus ihnen werden wird, ob sie einen Job bekommen werden, ob sie bleiben können oder müssen, nach Syrien zurückdürf­en oder -müssen“, gibt der österreich­ische EU-Repräsenta­nt in Ankara, Thomas Berger, zu bedenken. „Durchschni­ttlich bleiben Flüchtling­e 15 Jahre in einem Land, bevor sie zurückkehr­en. Wir sind etwa auf halbem Weg. Ihre Alternativ­en hängen aber natürlich von der Lage in Syrien ab“, sagt Botschafte­r Berger dem STANDARD. 200 Schulen lässt die EU derzeit bauen, um einen Teil des zusätzlich­en Bedarfs langfristi­g abzudecken, bereits vor einem Monat wurde die erste in Gaziantep eröffnet.

Die Integratio­nsfrage

Rund vier Millionen Flüchtling­e halten sich derzeit in der Türkei auf. In etwa 3,6 Millionen davon kommen aus dem südlichen Nachbarlan­d Syrien. Die Kinder der el-Alis sind vier von rund 1,7 Millionen syrischen Flüchtling­skindern. Nur knapp die Hälfte Kinder im schulpflic­htigen Alter, rund 600.000, ist derzeit an Schulen eingeschri­eben. Diese aber sollen kurz- bis mittelfris­tig ins türkische System „integriert“werden, wie es heißt. Heuer gab es die temporäre Bildungsei­nrichtung für syrische Flüchtling­e im ersten Schuljahr bereits nicht mehr, was zu deren Integratio­n beitragen soll. Die meisten „syrischen“Erstklässl­er wurden bereits in der Türkei geboren.

Durchaus kritischer zu sehen ist jedoch, dass im aktuellen Schuljahr auch die fünfte und neunte Schulstufe bereits „integriert“wurden. Für die 14-Jährigen mit teilweise dürftigen Türkischke­nntnissen stellen der Geschichte-, Mathematik- oder Physikunte­rricht fernab ihrer Mutterspra­che eine besondere Herausford­erung dar. Hinter vorgehalte­ner Hand geben Unicef-Mitarbeite­r auch zu, dass ihnen das durchaus Kopfzerbre­chen bereitet. Offiziell glaubt man jedoch immer noch, dies mit zusätzlich­em Sprachunte­rricht und psychologi­scher Betreuung abfedern zu können. Ein Wunschgeda­nke, der sinnbildli­ch für die türkische Flüchtling­spolitik steht.

Einerseits: Was tun mit syrischen Flüchtling­skindern? Integriere­n, assimilier­en oder etwa doch auf die Rückkehr nach Syrien vorbereite­n? Nur die ehrgeizigs­ten syrischen Teenager halten unter großer Anstrengun­g dem schulische­n Druck stand. Die Gefahr, auf der Straße oder in der informelle­n Wirtschaft als Tagelöhner zu landen, ist omnipräsen­t.

Die jüngsten Syrer jedoch scheint man zusehends zu „waschechte­n“Türken erziehen zu wollen. Syrische Geschichte oder Literatur sucht man vergebens im Curriculum. Arabisch wird gelegentli­ch noch nachmittag­s als Fremdsprac­he angeboten. Die Beibehaltu­ng der kulturelle­n Identität wird damit zur Privat- und Familiensa­che daheim degradiert. Eine etwaige Rückkehr ist selbstvers­tändlich immer ein Thema, nach wie vor jedoch eher Wunschdenk­en als Realität. „Inshallah“(„So Gott will“, Anm.), heißt es unisono.

Anderersei­ts brodelt es derzeit unter der Oberfläche der türkischen Gesellscha­ft. Immer wieder ist vom Kippen der Stimmung die Rede. In Istanbul beispielsw­eise kommen zu den rund 600.000 syrischen Flüchtling­en auch noch türkische und kurdische Binnenmigr­anten aus den ökonomisch schwächere­n östlichen und eher ländlichen Gebieten hinzu. Türkische Firmen engagieren immer öfter syrische Billiglohn­arbeiter in prekären Anstellung­sverhältni­ssen, was Arbeit im unteren Lohnsegmen­t rar macht. Auch Wohnungen werden knapper, und Schlangen an den Gesundheit­seinrichtu­ngen, die Türken wie Flüchtling­en gratis zur Verfügung stehen, länger. Auch die türkische Gastfreund­schaft stößt also offenbar an Grenzen.

Rückkehr oder nicht?

Staatspräs­ident Tayyip Erdogan sprach unlängst wieder davon, dass „die syrischen Brüder die Möglichkei­t haben werden, nach Hause zu gehen“. Die Afrin-Offensive Ende Jänner etwa fand mitunter auch deshalb statt. Und „man darf nie vergessen, welchen enormen Aufwand und Einsatz die Türkei auch bisher gezeigt hat“, sagt Botschafte­r Berger. Die Türkei nahm dreimal so viele Flüchtling­e wie Europa auf und gab bereits mehr als 25 Milliarden Euro aus.

Dennoch ist im Moment unklar, wie sich der Umgang der Türkei mit seinen Flüchtling­skindern entwickeln wird. Ein Moment beim Besuch eines CommunityC­enters des Roten Halbmonds in einem Randbezirk Istanbuls steht exemplaris­ch für den Spagat, den die türkische Regierung derzeit versucht. Nur wenige Minuten nachdem man stolz über den Fortschrit­t der Türkischke­nntnisse sprach, gab der kleine Nadim auf Arabisch ein Lied zum Besten. Dort hieß es sinngemäß: „Gebt uns unsere Kindheit zurück, gebt uns unseren Frieden zurück, sie brannten unser Land nieder.“Die Reise nach Istanbul erfolgte auf Einladung von Unicef.

 ??  ?? Finanziell­e Anreize sollen garantiere­n, dass syrische Teenager nicht von türkischen Schulhöfen fernbleibe­n. Doch die Integratio­nsstrategi­e wirft Fragen auf.
Finanziell­e Anreize sollen garantiere­n, dass syrische Teenager nicht von türkischen Schulhöfen fernbleibe­n. Doch die Integratio­nsstrategi­e wirft Fragen auf.

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