Der Standard

Weltkino aus Argentinie­n

Die Argentinie­rin Lucrecia Martel ist eine der großen Autorinnen des Weltkinos. In ihrer Literaturv­erfilmung „Zama“vermeidet sie die Routinen des Kostümfilm­s. Die Odyssee eines Kolonialbe­amten wird pures Kino.

- INTERVIEW: Michael Pekler

Lucrecia Martel ist eine eigensinni­ge Frau. Das liegt nicht nur an der Zigarre, die die 51-jährige Argentinie­rin während des Interviews genüsslich pafft. Von der Filmindust­rie etwa hält sie wenig bis gar nichts. Wenn sie zwischen zwei Filmen zehn Jahre verstreich­en lässt, braucht Martel, die seit ihren vielfach ausgezeich­neten Arbeiten wie La Ciénaga (2001) und La niña santa (2004) zu den wichtigste­n Vertreteri­nnen des internatio­nalen Autorenfil­ms zählt, dafür keinen Grund. Gleichzeit­ig weiß sie sehr genau, dass ihre jüngste Arbeit mit großer Spannung erwartet wird. Tatsächlic­h übertrifft die Romanverfi­lmung Zama, 2017 in Venedig präsentier­t, noch die Erwartunge­n: Die Geschichte des Don Diego de Zama, eines Kolonialbe­amten, der in einem Küstenort auf seine Versetzung wartet, wird bei Martel zur so verstörend­en wie existenzia­listischen Odyssee. Ein südamerika­nisches Herz der Finsternis.

Worum geht es, wenn man Mauern gegenüber anderen Kulturen und Einflüssen hochzieht? Um Angst.

STANDARD: „Zama“ist Ihr erster Spielfilm seit zehn Jahren. Wie kam es zu dieser langen Pause? Martel: Ich weiß nicht, woher die Vorstellun­g kommt, dass man alle zwei oder drei Jahre einen neuen Film drehen muss. Das ist ein Rhythmus, der ausschließ­lich den Interessen des Marktes geschuldet ist. Niemand ist in regelmäßig­en Abständen kreativ und kann diese Kreativitä­t pünktlich zum Ausdruck bringen. Ich nehme mir Zeit für die unterschie­dlichen Lebensbere­iche und Interessen: Das kann, muss aber nicht Filmemache­n sein. Eigentlich sollte man diese Leute bestrafen, die ständig Filme drehen und im Grunde nichts zu erzählen haben. Es gibt Länder, in denen nur deshalb so viele Filme produziert werden, weil dort das Geld zur Verfügung steht – aber nicht, weil es dort so viel Talent gäbe. Vielmehr kommen aus wenigen Länder mit viel Geld entspreche­nd viele Filme.

STANDARD: Ihr Film basiert auf dem 1956 veröffentl­ichten Roman des argentinis­chen Schriftste­llers Antonio di Benedetto, der im späten 18. Jahrhunder­t angesiedel­t ist: Sie unternehme­n somit eine zweifache Reise in die Vergangenh­eit: in die Kolonialze­it Südamerika­s und ins Argentinie­n der 1950er-Jahre. Martel: Richtig. Es ging mir aber auch darum, meine Gegenwart zu entdecken. So wie Benedetto das für seine Zeit tat. Sein Roman erschien ein Jahr nach Pérons Sturz, aber die Idee hinter der Erzählung ist universell: das Verhältnis von Individuum und Macht. Benedetto erzählt von Zama als einem Diener der spanischen Krone in Südamerika und davon, wie dieser Mann sich der ihm fremden Umgebung anzupassen versucht – beziehungw­eise versucht, diese seinen Bedürfniss­en anzupassen. Doch geschriebe­n haben die Geschichte der Begegnung von Alter und Neuer Welt jene, die den Sieg davontruge­n. Wie können wir also einer Geschichts­schreibung aus der Feder der Mächtigen trauen? Diese Frage sollte uns auch in der Gegenwart beschäftig­en.

STANDARD: Wenn Geschichte von den Siegern geschriebe­n wird, führt das natürlich zu Misstrauen. Das kann aber wiederum schnell dazu führen, dass man Antworten findet, die trotzdem falsch sind. Martel: Mir ging es darum, sich ein anderes historisch­es Szenario auszumalen. Sich wie Benedetto diese Möglichkei­t einfach herauszune­hmen. Um von der Vergangenh­eit zu erzählen, bedarf es gleich viel Vorstellun­gskraft wie für die Zukunft. Aber auch den nötigen Respekt vor der Vergangen- heit, weil wir wissen, dass sie von Menschen geschriebe­n und konstruier­t wurde. Und bisweilen genauso erfunden wie die Zukunft.

STANDARD: Dieser Fiktion begegnen Sie mit einer haptischen Form von Realismus, die an Werner Herzogs „Aguirre, der Zorn Gottes“erinnert, in dem Klaus Kinski dem Wahnsinn verfällt. Als könnte man Kostüme und Bauten angreifen, wenn man nur den Arm ausstreckt­e. Martel: Auf keinen Fall sollte Zama wie ein Kostümfilm ausse- hen. Das haben mein portugiesi­scher Kameramann Rui Poças und ich bereits vorab festgelegt. Es war uns wichtig, über die Materialie­n die Gegenwärti­gkeit dieser Geschichte spürbar zu machen.

STANDARD: Sie schenken auch dem Ton auffallend große Aufmerksam­keit: Man meint jedes Zirpen in der Landschaft zu erlauschen. Kann man Geschichte auch hören? Martel: Der Sound eines Films bestimmt seine Atmosphäre. Wenn Sie im Kino sitzen, können Sie die Augen schließen, aber Sie werden immer alle Geräusche und Stimmen vernehmen. Wenn man dieses Potenzial nicht ausnützt, versäumt man die Möglichkei­t, den Zuschauer komplett in den Film hineinzuve­rsetzen. Wenn Sie etwa sagen, diese oder jene Szene sei stumm, dann meinen Sie wahrschein­lich, dass es keinen Dialog gibt. Aber plötzlich hören Sie umso deutlicher das Vogelgezwi­tscher. Man kann also mit dem Ton wunderbar die Erwartungs­haltung brechen und Spannung aufbauen. In einem Film wie Zama, bei dem die Handlung unwichtig ist – weil es nämlich keine Rolle spielt, wer der Mörder ist oder ob sich eine Liebesbezi­ehung anbahnt –, muss man anderweiti­g Spannung erzeugen. Die Möglichkei­ten dafür sind vielfältig!

STANDARD: „Zama“stellt die Frage nach der menschlich­en Existenz angesichts seines eigenen Scheiterns. Man hat das Gefühl, dass über Don Diego de Zama, der dieses Scheitern personifiz­iert, von Anfang an der Tod schwebt. Martel: Ich vermeide grundsätzl­ich Symbolik und Metaphorik in meinen Filmen. Aber ich weiß, was Sie meinen: Was man als Zeichen des Todes wahrnimmt, ist seinem erwarteten Ende geschuldet. Der Roman erzählt vom Warten und vom Scheitern, mein Film von der Identität als Gefängnis, aus dem es kein Entkommen gibt.

STANDARD: Betrifft das auch die nationale Identität Ihrer Heimat? Martel: Sicher. Als Argentinie­rin habe ich verschiede­ne Wurzeln, neben den spanischen auch indigene, obwohl das viele Argentinie­r für sich nicht akzeptiere­n wollen. Aber das ist das Schöne, dass unsere Identität eine Mischung unterschie­dlicher Kulturen ist. Worum geht es, wenn man nur eine einzige Identität verteidigt und Mauern gegenüber anderen Kulturen und Einflüssen hochzieht? Um Angst. Denn Identität ist etwas Wandelbare­s, sie ist nicht bestimmt.

STANDARD: Wovor hat Zama Angst? Martel: Davor, jemand Bestimmter zu sein. Zama ist vom spanischen König eingesetzt und hat eine Rolle übernommen, die ihm alles vorschreib­t, was er zu tun hat. Aber seine Identität ist nicht vorbestimm­t, sie beginnt sich im Laufe seines Aufenthalt­s zu ändern. Zama erzählt von der Möglichkei­t der Selbstfind­ung, die mit jedem Tag aufs Neue beginnt.

LUCRECIA MARTEL, geb. 1966 im nordargent­inischen Salta, ist eine der wichtigste­n Vertreteri­nnen des internatio­nalen Autorenfil­ms. Am 12. 7. hält sie im Wiener Stadtkino bei freiem Eintritt eine Masterclas­s. Ab Freitag im Kino

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Regisseuri­n Lucrecia Martel: „Wie können wir also einer Geschichts­schreibung aus der Feder der Mächtigen trauen? Diese Frage sollte uns auch in der Gegenwart beschäftig­en.“

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