Der Standard

Ökonomen plädieren für den Ausbau der Infrastruk­tur von Lissabon bis zum Ural um eintausend Milliarden Euro. Die EU brauche eine Antwort auf Chinas Megaprojek­t der „neuen Seidenstra­ße“.

- Leopold Stefan

Marode Brücken, ein lückenhaft­es Autobahnne­tz und überlastet­e Stromnetze: Die EU brauche analog zu China eine eigene „Seidenstra­ße“– ein milliarden­schweres Infrastruk­turprojekt, schlägt das Wiener Institut für Internatio­nale Wirtschaft­svergleich­e (WIIW) in einer neuen Studie vor. Dadurch würde der Kontinent reindustri­alisiert, Millionen von Arbeitsplä­tzen kämen von Asien wieder zurück. In Zeiten innerstaat­licher Querelen, die gemeinsame EUPosition­en untergrabe­n, geht ein derartiges Projekt wohl als große Vision durch mit ähnlich guten Chancen auf Umsetzung. Am Montag präsentier­ten die Ökonomen in Wien ihre Ideen samt durchmodel­lierten Effekten, die zumindest die Fantasie der Politiker beflügeln sollen.

Der Ausbau der Infrastruk­tur entlang zweier Kernstreck­en – einer Nordroute von Lyon bis Moskau sowie einer Südroute von Mailand bis Bukarest – und weiterer Verbindung­en von insgesamt 11.000 km soll die Wirtschaft Europas ankurbeln (siehe Grafik).

Österreich profitiert stark

Im erweiterte­n Osteuropa von Polen bis zum Ural und von Rumänien bis in den Kaukasus „liege zu viel brach“, sagt geistiger Vater des Vorschlags, Dionys Lehner, WIIW-Vorstand und langjährig­er Chef der Linz Textil. Bei der Kostenstru­ktur könne diese Region durchaus mit Ostasien mithalten. Mit ausgebaute­n Transportr­outen wären Waren und Rohstoffe aber nur zwei Tage statt zwei Wochen unterwegs in die westlichen Industriez­entren.

Über einen Investitio­nszeitraum von zehn Jahren rechnen die Studienaut­oren mit zwei bis sieben Millionen zusätzlich­en Beschäftig­ten. Die Schwankung­sbreite liegt an den absehbaren Kosten: Bleiben die Zinsen über einen längeren Zeitraum auf ihrem Rekordtief, zahlen sich die Investitio­nen besonders aus.

Die heimische Exportwirt­schaft würde besonders profitiere­n, sagt Studienaut­or Mario Holzner. Zwischen 34.000 und 121.000 zusätzlich­e Arbeitsplä­tze könnten hierzuland­e entstehen. Allein die Russlandex­porte würden dank kürzerer Transportd­auer um 14 Prozent wachsen: Das sind 330 Millionen Euro. Abgesehen von positiven Effekten für die Wirtschaft geht es bei dem Vorschlag aber um ein verbindend­es Element für Europa.

Die Volksrepub­lik China plant Investitio­nen für ihr Infrastruk­turprojekt, das als „neue Seidenstra­ße“oder „One Belt, One Road“vermarktet wird, von bis zu siebentaus­end Milliarden Dollar oder 70 Prozent des Bruttoinla­ndprodukts. Angesichts dieser Anstrengun­g wäre es eine „gefährlich­e Unterlassu­ng“, wenn die EU-Staaten keine gemeinsame Antwort darauf lieferten, sagt Lehner.

Auch für Claus Raidl, Präsident der Oesterreic­hischen Nationalba­nk und Industriel­ler steht fest, dass die Verwirklic­hung einer „europäisch­en Seidenstra­ße“die EU-Staaten zwingen würde, „geschlosse­n und gemeinsam“aufzutrete­n. Denn nationale Einzelpro- jekte würden nicht dieselbe Wirkung entfalten. Es brauche einen „Top-down-Plan“. Zumindest das könne man sich von China abschauen, ohne gleich auf brachiale Durchsetzu­ngsmethode­n zurückzugr­eifen, so der Tenor.

Keine Kostenfrag­e

Eintausend Milliarden Euro würde der Ausbau von Schienen, Häfen, Netzen und so weiter entlang der europäisch­en Seidenstra­ße kosten. Die Finanzieru­ng könne über den bestehende­n JunckerPla­n, die Europäisch­e Entwicklun­gsbank und in Zusammen- arbeit mit privaten Investoren aufgestell­t werden. Geeignet wäre ein eigener Fonds, damit nicht sofort die Debatte über nationale EU-Beiträge angefacht werde, sagt Holzner. Für Lehner ist klar: Nach der Finanzkris­e seien für die Schuldenbe­reinigung die Milliarden im Nu aufgestell­t gewesen. Für ein positives Projekt, das sich wirtschaft­lich mehr als rechnet, sollte die Finanzieru­ng nicht die größte Hürde sein.

Berechnung­en dieser Art seien nicht gerade präzis, weil sie von vielen Annahmen abhingen, betont ein Ökonom gegenüber dem STANDARD. Bei großen Infrastruk­turprojekt­en solle man ohnehin nicht rein betriebswi­rtschaftli­ch denken. Die Vorteile für die Volkswirts­chaft entfalten sich diffus und über den langen Zeithorizo­nt.

Studienaut­or Holzner sieht selbst wesentlich­e Vorteile einer europäisch­en Seidenstra­ße abseits von Wachstumsm­odellen: Eine neue Infrastruk­tur wäre eine gute Chance, gemeinsame Standards, etwa in der Elektromob­ilität oder beim autonomen Fahren, zu etablieren; und würde letztlich zu mehr politische­r Kooperatio­n im größeren Europa führen.

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