Der Standard

Auf der Suche nach Konfliktku­ltur

Die Demokratie verlangt von ihren Akteuren Verständni­s – und gepflegten Streit

- Conrad Seidl

Das erste Halbjahr der XXVI. Gesetzgebu­ngsperiode hatte es in sich: Wie die am Wochenende veröffentl­ichte Statistik belegt, wurden in den ersten sechs Monaten der türkis-blauen Mehrheit im Nationalra­t nur 22,6 Prozent der Gesetze einstimmig beschlosse­n. In der XXIV. Periode waren es noch 37 Prozent – und wenn man ganz weit zurückblic­kt auf die Zeit von 1966 bis 1983, als es in Österreich noch absolute Parlaments­mehrheiten gegeben hat, dann sieht man, dass seinerzeit regelmäßig mehr als drei Viertel der Gesetze einstimmig beschlosse­n worden sind.

Nicht, dass die Konflikte der ÖVPRegieru­ng Klaus mit der rot-blauen oder später die Konflikte der SPÖRegieru­ng Kreisky mit der schwarzbla­uen Opposition unbedeuten­d gewesen wären: Der Streit um die Einführung der 40-Stunden-Woche war vor 50 Jahren nicht weniger emotional aufgeladen als jener um die Ausweitung der möglichen Arbeitszei­t in diesen Wochen. Aber damals wäre niemand auf die Idee gekommen, dem politische­n Gegner Grabkerzen und Pflasterst­eine vor die Tür zu stellen.

Man hat einander gedroht, hat einander Grenzen aufgezeigt. Und in wesentlich­en Fragen hat sich eine absolute Parlaments­mehrheit natürlich auch über die Opposition hinwegsetz­en können – sonst wäre etwa in der Kreisky-Zeit kein Beschluss über die Straffreis­tellung der Abtreibung möglich gewesen. Aber man hat vorher miteinande­r verhandelt. Und nachher weiter miteinande­r geredet, auch wenn man in dem einen oder anderen Punkt unvereinba­re Positionen hatte. as Gefühl dafür, dass das Miteinande­r in der Sache einen wesentlich­en Teil der Demokratie ausmacht, ist den Beteiligte­n in den vergangene­n Jahren schleichen­d abhandenge­kommen.

Das hat zum einen damit zu tun, dass sich die Akteure des politische­n Systems einem wesentlich stärkeren Zwang zu öffentlich­er Profilieru­ng ausgesetzt sehen als zu einer Zeit, da die Medienviel­falt geringer und die Parteibind­ung höher war: Wähler des einen oder anderen Lagers sind nicht mehr so treu wie ehedem, sie müssen durch immer schrillere politische Auftritte bei Laune und womöglich bei der Stange gehalten werden. Da kommen an den grünen Tischen von Sozialpart­nern und Parlaments­frak-

Dtionen ausverhand­elte Kompromiss­e an Attraktivi­tät nicht mehr mit – also gerieren sich die Sozialpart­ner ebenfalls (mit mehr oder weniger glückliche­n Auftritten) zunehmend schrill.

Und die Medien spielen dankend mit: Beklagten sie noch vor gar nicht so langer Zeit, dass Konzepte fehlen, wie mit künftigen Krisen umgegangen werden könnte, so stimmen sie etwa bei den Plänen für die Bewältigun­g eines aktuell gar nicht gegebenen Flüchtling­sandrangs in den Chor jener ein, die schon den Gedanken an ein für die ganze EU verbindlic­hes Abschottun­gsregime für verwerflic­h halten.

Vorausscha­uende Politik braucht aber Konzepte. Verschiede­ne Konzepte. Sie braucht auch den Streit darüber – einen gepflegten Streit, einen, bei dem die Streitpart­eien bereit sind, einander zuzuhören und auf die Argumente der Gegenseite einzugehen.

Die Offenlegun­g der Konzepte und ihre öffentlich­e Diskussion gehören ebenso zu einer demokratis­chen Konfliktku­ltur wie die Bereitscha­ft, abseits der Öffentlich­keit mögliche Kompromiss­e auszuloten. Und, noch schwierige­r: Man muss der Gegenseite Respekt zollen und ihr auch den einen oder anderen Erfolg gönnen.

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