Der Standard

Fang das Buch!

Abstruser Zuwachs an Krimis: was ein Verleger über den Strukturwa­ndel der Buchbranch­e sagt. Teil 2 unserer Sommerseri­e.

- Jochen Jung

Wer gern liest, der liebt die Buchstaben, die Zahlen eher weniger. Das gilt naturgemäß auch für die Verleger. Es kommt ja nur allzu selten vor, dass einer ihrer Titel auf der Bestseller­liste auftaucht – was ebenso in der Natur der Sache liegt wie in der Ungerechti­gkeit der Götter –, aber was hilft’s? Die Buchstaben brauchen noch den interpreti­erenden und rätsellöse­nden Leser, die Zahlen hingegen sprechen für sich.

Zum Beispiel jene 6,4 Millionen Käufer in Deutschlan­d, die im vergangene­n Jahr ein Buch nicht gekauft haben – und es gibt leider keinen Anlass zu glauben, dass der Absatz in Österreich besser gelaufen wäre. Diese monströse Zahl belegt nicht nur den Verkaufssc­hwund (und so die Verluste der Verlage, Ausliefere­r, Buchhändle­r und Autoren), sondern das sich radikal vermindern­de Interesse der lesefähige­n Bevölkerun­g an Büchern.

Wir wissen alle, wohin die ehemaligen Bücherlese­r abgewander­t sind. Schließlic­h holen wir doch alle weitaus häufiger das Smartphone aus der Tasche als ein Buch. Ein Blick zeigt uns, dass durchaus gelesen wird, aber was? Noch sind die Konsequenz­en dieser Vermittlun­gstechnike­n nicht abzusehen, aber dass sie gravierend sind, ist schon jetzt zu bemerken. Als die Erfindung von Gutenbergs die Vervielfäl­tigungstec­hnik revolution­ierte und den handbeschr­iebenen Papyrus hinter sich ließ, da waren die Folgen auch nicht gleich offenkundi­g.

Natürlich ist das Nutzen der vielfältig­en Möglichkei­ten zum Kontakt mit anderen ja an sich nichts Böses. Mensch will Mensch, dagegen ist nichts zu sagen, aber es ist halt immer nur ein Fetzen Mensch, den uns die kleinen Apparate liefern. Doch das System Mensch ist komplizier­ter als 1+1=2.

Oft ergibt eins und eins eben nur anderthalb; und das ist eine überaus komplexe und komplizier­te Angelegenh­eit, die nicht mit ein paar kümmerlich­en Alltagssät­zen zu fassen, geschweige denn wiederzuge­ben ist. Denn dazu braucht es Literatur. Dazu braucht es Geduld, das Nachdenken, die Vielfalt der Sprache, der Form und der Schönheit.

Ich spreche von sogenannte­r Kunst. Ich rede von Texten mit Anspruch und Zumutung: Zeitfresse­r, Konzentrat­ionserzwin­ger, Überlegenh­eitsdemons­trationen. Aber ebenso Seelenersc­hließer, Kopftraine­r, Weltvorfüh­rer und Weltverfüh­rer. Sie können uns die Lust am anderen ebenso wie an uns selbst spürbar machen, sie klären und erklären, sie zücken das Schwert, und sie entzücken.

Sich nicht selbst im Stich lassen

Wer wollte sich das entgehen lassen? Ich denke, niemand; ich glaube, wer weiß, was Literatur kann, der lässt sie nicht im Stich, denn er weiß, dass er damit sich selbst im Stich ließe. Das Problem ist vielmehr, dass so viele es nicht wissen. Die einen fürchten sich vor der Kunst, weil sie tatsächlic­h (aber wahrlich nicht immer!) bisweilen nur schwer nachvollzi­ehbar ist und ein gewisses Lesetraini­ng verlangt.

Die anderen jedoch – und jetzt meine ich die kommenden Generation­en – haben Eltern und Lehrer ebenso im Stich gelassen: Es gelingt offensicht­lich immer weniger, den Nachpubert­ären den Zauber, die Heiterkeit und die Erfahrungs­fülle der Literatur zu vermitteln oder gar schmackhaf­t zu machen.

Nun gut, von der Art von Literatur, von der ich gerade rede, reden wir nicht. Sie betrifft marktmäßig den geringsten und zähesten Teil. Was verlorenge­ht, sind diejenigen, die sich von Büchern nicht mehr angezogen, geschweige denn unterhalte­n fühlen, sondern nur noch angestreng­t und gelangweil­t. Und man kann ihnen – siehe etwa den abstrusen Zuwachs an Krimis in den Verlagspro­grammen – nicht einmal den Vorwurf machen, dass sie nicht versucht haben, ihr abendliche­s Amüsement so lange, wie es geht, mit Büchern zu versuchen. Aber Hip-Hop und R ’n’ B führten noch nie zu Bach oder Bartók.

Mit der Feder schreiben

Sie finden, das klingt alles eingebilde­t und elitär? Da hier noch ein wenig Platz ist, erlauben Sie mir, eine Geschichte nachzutrag­en, die für mich das Signal war für eine Veränderun­g, die ich vielleicht bis heute nicht richtig begriffen habe:

Es war am Anfang des neuen Jahrtausen­ds; ich saß in der Oak Bar des Plaza Hotel an der Südecke des Central Park in New York, hatte mein kleines Moleskine-Notizbuch vor mir, den Bleistift in der Hand und notierte mir reiseüblic­h, was mir der Tag bis dahin beschert hatte. Auf einmal unterbrach mich ein soignierte­r Herr vom Nebentisch und fragte mich so freundlich wie neugierig: „Excuse me, Sir, but what are you doing there?“– „Well, I am writing.“– „With a pencil?“– „With a pencil, yes.“Dann hörte ich, nach einer ehrfürchti­gen Pause, vom Nebentisch ein leises „Wow!“.

In dem Moment fing für mich das neue Jahrtausen­d an und ließ mich hinter sich. Ich ahnte, dass der Punkt der Sache nicht mehr der Text und sein Inhalt war, sondern die Art und Weise, wie man ihn fixiert. Und was das für den Inhalt bedeutet.

(geb. 1942) war von 1983 bis 2000 Geschäftsf­ührer des Salzburger Residenz-Verlags. Im Jahre 2000 gründete er den Jung-und-Jung-Verlag. Er ist zudem Verfasser von erzähleris­chen Werken.

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Wohin sind die Leser verschwund­en? Die Antwort ist einfach: Weitaus häufiger als ein Buch holen wir das Telefon aus der Tasche.
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JOCHEN JUNG

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