Der Standard

Benjamin-Philologe Rolf Tiedemann 1932–2018

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Hamburg – Sein eigenes Werk stellte er zugunsten von Theodor W. Adorno und Walter Benjamin generös hintan: Rolf Tiedemann, gebürtiger Hamburger, studierte Philosophi­e, ging aber auch durch die Schule der Altphilolo­gie. Er arbeitete als Assistent Adornos am Frankfurte­r Institut für Sozialfors­chung. Vor allem aber rekonstrui­erte er aus dem Nachlass des talmudisch­en Marxisten Benjamin (1892–1940) – Schriften, verwahrt in zwei Persilkart­ons in Gretel Adornos Büro – ein Lebenswerk, dessen Einfluss auf die Theorie der Moderne und auf die Geschichts­wissenscha­ft kaum zu überschätz­en ist. Nach Adornos Tod 1969 gelangte auch dessen Nachlass in seine Obhut. Die verschlung­ene Ästhetisch­e Theorie erblickte zum Beispiel erst durch Tiedemanns Zutun das Licht der Welt. Aus einem zerklüftet­en Konvolut von Texten edierte er nachträgli­ch Walter Benjamins Passagenwe­rk: die (Wieder-)Erfindung von Paris als Hauptstadt des 19. Jahrhunder­ts. Jetzt ist Rolf Tiedemann, ein äußerst streitbare­r Lordsiegel­bewahrer der Kritischen Theorie, der sich sogar mit dem Suhrkamp-Verleger überwarf, 85-jährig gestorben. (poh)

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