Mühsame Brexitdiplomatie
Frankreich soll seine bisher harte Haltung in Sachen Brexit lockern: Mit diesem Anliegen reiste die britische Premierministerin Theresa May am Freitag zu Emmanuel Macron.
Großbritanniens Premierministerin May sucht Rückendeckung für ihren Brexit-Kurs bei Frankreichs Staatspräsident Macron.
Erlaubt das sonnige Ambiente der Côte d’Azur, was der neblige Ärmelkanal bisher verhindert hat – nämlich eine Annäherung zwischen Frankreich und Großbritannien? Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron empfing die britische Regierungschefin Theresa May jedenfalls am Freitagabend auf Fort Brégançon, der imposanten Sommerresidenz der französischen Präsidenten, eine knappe Autostunde südwestlich des mondänen SaintTropez. Mit Blick auf die türkisblauen Wasser des Mittelmeers war laut einem Insider für eine „entspannte, aber doch seriöse Atmosphäre“gesorgt.
Nach einem frühabendlichen Arbeitsmeeting der beiden europäischen Spitzenpolitiker stand ein spätabendliches Diner auf der Terrasse des wuchtigen ehemaligen Militärforts im Beisein von Brigitte Macron und Philip May auf dem Programm. Ein Pressetermin war – zumindest vorerst – nicht vorgesehen, und auch informell sickerten in den Stunden vor dem Zusammentreffen der beiden keine Informationen durch die dicken Festungsmauern.
May hatte auf dem Rückweg von ihrem Italien-Urlaub selbst um das Treffen ersucht. Es ist offenbar Teil der neuen Kommunikationskampagne, mit der May nach der Regierungsumbildung im BrexitRessort Goodwill bei den europäischen Regierungen schaffen will.
Harter Brocken
Paris gilt in London als harter Brocken: Weniger abhängig von den Exporten ins Königreich als etwa Deutschland, verfolgt Frankreich einen relativ harten Kurs gegenüber London – zumal sich die Trauer über den Auszug der sperrigen Briten aus der EU in Paris in engen Grenzen hält. Wenn die Briten die EU verlassen wollten, sei das ihre Entscheidung, lassen Pariser Diplomaten verlauten; mit diesem unilateralen Schritt verwirke das prominente EU-Mitglied aber jeden Anspruch auf eine privilegierte Behandlung.
So offen sagt das Macron natürlich nicht. „Paris will nicht die Stelle der von Michel Barnier geleiteten Verhandlungen einnehmen“, lassen seine Präsidialberater verlauten. Sie wissen aber auch, dass Barnier selbst bemüht ist, Macrons konsequente Position einzubringen: Der französische Chefverhandler der EU braucht die Unterstützung „seines“Staatspräsidenten, wenn er sich Chancen ausrechnen will, mit französischer Rückendeckung 2019 das Präsidium der EU-Kommission zu übernehmen. Erst dieser Tage hatte Barnier in Paris zu den stockenden Brexit-Gesprächen erklärt, es bestehe „zu 80 Prozent Übereinstimmung“in Bezug auf die Rückzugsmodalitäten. Offen seien aber noch „wichtige Fragen“wie etwa die der nordirischen Zollgrenze.
Risiko eines Chaos-Brexits
Der neue britische Außenminister Jeremy Hunt hatte zuvor auf einem Pariser Stopover seiner Europatournee – diese hat ihn vor wenigen Tagen auch nach Wien geführt – erklärt, er mache sich „wegen eines echten Risikos eines Brexits ohne Abkommen“große Sorgen. Französische Kreise sehen darin einen üblichen Verhandlungsbluff der britischen Diplomatie und zeigen sich im Unterschied zu Berlin wenig beunruhigt. Lapidar meinten Macrons Berater, Paris wünsche „keineswegs einen Brexit ohne Abkommen“. Was sie gar nicht zu sagen brauchten: Es liege an London, dieses Szenario zu verhindern, wenn man sich dort so davor fürchte.
Macron dürfte May auf Fort Brégançon die substanziell gleiche Antwort erteilt haben, auch wenn er offiziell betonen ließ, es handle sich um ein „freundschaftliches Abendessen“. Als gewiefte Gastgeber scheuten die Macrons – die schon die Trumps im Eiffelturm-Nobelrestaurant Jules Verne bewirtet hatten – keinen Aufwand, den Mays ein memorables Dîner à la française servieren zu lassen. Und sei es nur, um den britischen Gästen aufzuzeigen, was sie eben nicht mehr erwartet, wenn sie in Zukunft nur noch die eigene britische Gastronomie zur Verfügung haben sollten.
Vor drei Jahren etwa um diese Zeit begann der große Flüchtlingsstrom aus dem Nahen Osten, besonders auch nach Österreich. Das ist der Anlass, um damalige Einschätzungen zu überprüfen. Denn kein Ereignis hat die aktuelle europäische Politik so verändert wie dieses. orweg: Hier war von einem „Flüchtlingsstrom“die Rede und ist es noch immer. Im rechtspopulistischen und rechtsextremen Framing sind daraus längst „Wohlstands- und Sozialstaatsmigranten“geworden. Das ist eine Lüge, denn die erste, allerdings nur die erste Welle bestand aus echten Kriegsflüchtlingen aus Syrien und dem Irak. Erst die zweite und dritte Welle waren Afghanen und Nordafrikaner, die zum Teil wirklich Wirtschaftsflüchtlinge waren und nach Europa aufbrachen, als sie sahen, dass die Grenzen offen sind. Damit hatten wir (auch ich) allerdings nicht gerechnet.
Die Grenzen waren offen, weil alles andere nicht zu handhaben gewesen wäre. Hätte man schießen wollen? Was sagen die Zahlen? „Die meisten Asylwerber/-innen stammten 2015 aus Afghanistan (25.600), Syrien (24.500) und dem Irak (13.600).“2016 kam es „durch die Flüchtlingsmigration“zu Zuzug „insbesondere aus Afghanistan (11.700), Syrien (9000) und dem Iran (4700)“(Integrationsfonds).
Das war/ist zu bewältigen. Womit ich und viele andere nicht gerechnet hatten, war die psychologische Wirkung der Bilder: Tausende Fremde, die ein paar Polizisten an den Grenzen einfach zur Seite schoben. Das wurde von der Bevölkerung als Kontrollver-
Vlust empfunden. Um die Jahreswende 2015/16 kam das sexuelle Massenmobbing vor allem von Nordafrikanern in Köln dazu.
Dieser Spannungszustand zwischen der Moderne und einer großteils rückständigen Gesellschaft existiert noch immer. Es gibt auch ökonomische Probleme der Eingliederung. Aber das kann durchaus gemanagt werden – wenn nicht die muslimischen Flüchtlinge/Zuwanderer sozusagen überfallsartig zu den bereits seit längerem hier existierenden muslimischen Communitys dazugekommen wären. Das war für viele zu viel. Es existierte ohnehin schon ein Unbehagen angesichts der so sichtbar anderen Zuwanderer erster, zweiter, dritter Generation. Dieses Unbehagen hatte die Politik bisher verdrängt. Als noch weitere über die Grenze kamen, kippte die Stimmung.
Was wird passieren? Damals schrieb ich: „Europa wird eine Spur orientalischer werden, das schon. Aber nur eine Spur. Und wer sich Sorgen macht wegen ‚Islam‘: Die freie, säkulare, pluralistische europäische Gesellschaft wird ihr Verführungswerk tun.“Das gilt noch immer, es wird allerdings länger dauern und viel schwieriger werden. Denn als Reaktion auf die Ereignisse von 2015/16 wurden in Europa Kräfte stark und stärker, die genau diese freie, säkulare, pluralistische Gesellschaft beseitigen und durch eine autoritäre, nationalistische, illiberale „Demokratie“ersetzen wollen. s wird also notwendig sein, sowohl die Zuwanderergesellschaften zu modernisieren und teilweise zu demokratisieren als auch die autochthonen Antidemokraten in Schach zu halten. Damit hat wirklich keiner gerechnet. hans.rauscher@derStandard.at
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