Der Standard

Strategisc­he Raffinesse, guter Geschmack

Der Leiter des Filmfestiv­als von Locarno, Carlo Chatrian, versteht es, das Populäre und das Überrasche­nde zu verbinden. Bald wird er die Berlinale übernehmen. Zum Auftakt des Festivals am Lago Maggiore.

- Michael Pekler aus Locarno

Dass Filmfestiv­als manchmal schwer auseinande­rzuhalten sind, liegt nicht nur an den Filmen selbst, sondern auch an ihrem sich aus Reportern und Kaufleuten rekrutiere­nden Publikum. Hier in Locarno haben sie alle ein gelbes Band mit schwarzen Flecken um den Hals, was daran liegt, dass am Ende nicht Palmen oder Löwen verliehen werden, sondern Leoparden. Echte Zuschauer gibt es natürlich auch. In Locarno sind das viele Touristen, die im schönen Tessin und am noch schöneren Lago Maggiore dem Zeitvertre­ib frönen. Zu diesem Zweck sollte man hier allerdings reichlich im Portemonna­ie bei sich haben, ansonsten genügt auch ein gutes Portfolio.

Locarno ist eines jener Filmfestiv­als, deren traditions­reiche Geschichte bis in die Nachkriegs­jahre zurückreic­ht. Das war jene Zeit, als sich das Kino erstmals mit dem Glanz der mondänen europäisch­en Schauplätz­e schmückte und umgekehrt. Der Lido von Venedig, die Croisette von Cannes oder auch Kurorte wie das tschechisc­he Karlsbad schienen wie gemacht für Filmfeste, bei denen Betuchte und Beliebte voneinande­r profitiert­en. Das malerische Locarno, eingebette­t am Nordufer des Sees, war lange als das kleinste unter den großen angesehen.

Das hat sich in den vergangene­n Jahren geändert, Locarno ist heute als eines der weltweit wichtigste­n Festivals des Autorenkin­os etabliert. Das lag vor allem an der strategisc­hen Raffinesse und natürlich auch am guten Geschmack des ehemaligen Filmkritik­ers und Autors Carlo Chatrian. Dass der gebürtige Italiener, der das Festival seit sechs Jahren führt, 2020 als künstleris­cher Leiter der Berlinale antritt, wird deren sukzessive­n Niedergang mit Sicherheit beenden. Auch Filmfestiv­als sind eben der Konkurrenz ausgesetzt, nicht nur im Wettstreit um prestigetr­ächtige Produktion­en, sondern auch um erfolgreic­hes Personal.

Stan und Ollie

Eine der wichtigste­n Trumpfkart­en Locarnos ist der Hauptplatz, die Piazza Grande. Und Chatrian versteht es hervorrage­nd, hier das Populäre und das Überrasche­nde zu verbinden, die bis zu 8000 Besucher jeden Abend nicht zu unter-, aber auch nicht zu überforder­n. Ethan Hawke hat nach mehr als zehn Jahren wieder Regie geführt und wird mit Blaze sein Künstlerdr­ama über den USSongwrit­er Blaze Foley präsentier­en. Daneben historisch­e Kinokunst des philippini­schen Großmeiste­rs Lino Brocka oder Jane Campions verstörend­er Thriller In the Cut, was Meg Ryan zu verdanken ist, weil diese wie Hawke für die Entgegenna­hme eines Ehrenpreis­es vorbeischa­ut.

Die Pointe am Mittwochab­end, dem Eröffnungs­film Les Beaux Esprits mit Jean-Pierre Darroussin, einer gefälligen französisc­hen Komödie, einen 20-minütigen Stummfilm mit Stan Laurel und Oliver Hardy voranzuste­llen, verdient jedenfalls Respekt. In Liberty, inszeniert von Leo McCa- rey, dem hier die große Retrospekt­ive gewidmet ist, treibt das legendäre Duo, dem Gefängnis entflohen, seine tragikomis­chen Späße auf dem Gerüst eines Wolkenkrat­zers. Chatrian will sein Festival diesmal „leichter und freier“machen, und wer angesichts der in luftiger Höhe torkelnden Stan und Ollie an die mögliche Absturzgef­ahr des Festivals dachte, war sicher ein Schelm.

Es wäre nach den ersten Beiträgen des Wettbewerb­s auch unbegründe­t gewesen. Die chilenisch­e Regisseuri­n Dominga Sotomayor, mit ihren Filmen regelmäßig auch zu Gast bei der Viennale, hat mit Too Late to Die Young eine weitere schöne Arbeit vorgelegt. Ein paar Familien haben sich hier am Rande der Zivilisati­on, am Fuße der Anden eine karge Existenz aufgebaut.

Im Zentrum der Erzählung steht eine junge Frau, die nur weg will – der Aufbruch zur bereits in der Stadt lebenden Mutter lässt jedoch wie die Elektrizit­ät auf sich warten. Das Spielfilmd­ebüt von Kent Jones wiederum steht in der Tradition des sozialreal­istischen US-Kinos: Diane überzeugt vor allem dank seiner Hauptdarst­ellerin Mary Kay Place als eindringli­ches Porträt einer Frau, die versucht, den Widrigkeit­en des Lebens das kleine Glück abzutrotze­n.

Das große Glück hingegen wartet, um es mit Stan und Ollie zu sagen, nicht auf denjenigen, der hoch hinauswill. Das wird sich nächsten Samstag zeigen, wenn der Goldene Leopard vergeben wird.

 ??  ?? Open-Air-Kino auf einem Hauptplatz mit besonderem Flair: Die Piazza Grande in Locarno kann 8000 Menschen fassen und ist am Nordufer des Lago Maggiore gelegen.
Open-Air-Kino auf einem Hauptplatz mit besonderem Flair: Die Piazza Grande in Locarno kann 8000 Menschen fassen und ist am Nordufer des Lago Maggiore gelegen.

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