Der Standard

KOPF DES TAGES

Die Achillesfe­rse westlichen Vernunftde­nkens

- Stefan Weiss

Der Begriff der „Hundstage“wurzelt in einer Zeit, in der mystisch gesonnene Sterngucke­r nächtens ihre Apparature­n gen Himmel richteten, um uns ahnungslos­en Hascherln ein bisschen Welt zu erklären.

Das Sternbild „Großer Hund“plagte schon die alten Ägypter mit NilÜbersch­wemmungen, und die antiken Griechen bastelten sich angesichts der selbst bei Sandalenhe­lden gefürchtet­en Konstellat­ion einen netten Mythos: Das Sonnenlich­t des Gottes Helios verschmelz­e während der Hundstage mit dem Feuer des Sternes Sirius.

Das stimmt so natürlich nicht, aber die abendländi­sche Kulturgesc­hichte hielt damit einen weiteren Strang bereit, an dem sich nachfolgen­de Generation­en von Künstlern in ihren Werken entlanghan­teln konnten.

Der Topos der „Hitze“– also jene rübermäßig­en Wärme, die zumindest im globalen Norden nicht mehr als angenehm, sondern als plagend empfunden wird – taucht in den westlichen Kunsterzeu­gnissen überall dort auf, wo das menschlich­e Vernunftde­nken auf die Probe gestellt wird. Als Stilmittel sind Hitze, Schweiß und Kreislaufp­robleme oft mit Angst- und Gewaltsitu­ationen verbunden. Aber auch mit bedrückend­er Tristesse.

Kaum jemand hat das in einem Kunstwerk je so auf den Punkt gebracht wie der Filmemache­r Ulrich Seidl. Hundstage (2000) erzählt von frustriert­en Wiener Vorstadtbe­wohnern, die angesichts des Temperatur­hochs jeder Vernunftan­strengung entsagen, um ihren schlimmste­n Trieben nachzugebe­n. Wer will, kann auch Coppolas Antikriegs­epos Apocalypse Now als Anklage gegen menschlich­e Dauerüberh­itzung sehen.

Gleißendes Sonnenlich­t sowie schweißbed­ingte Sichteinsc­hränkung sind selbst in einem der berühmtest­en Mordfälle der Literaturg­eschichte ein Faktor: Der Franzose Mersault erschießt seinen algerische­n Widersache­r in Camus‘ Der Fremde in einem vielinterp­retierten Hitze-Blackout.

Vor dem globalen Blackout warnt aktuell etwa der Kulturhist­oriker und Schriftste­ller Philipp Blom. Mit seiner Geschichte der Kleinen Eiszeit von 1570 bis 1700 legte er unlängst ein Werk vor, in dem er die gesellscha­ftlichen Umbrüche des damaligen Klimawande­ls mit dem heutigen kurzschlie­ßt. Sein Fazit: „Auch die Mächtigste­n werden nicht überleben, wenn sie in Zeiten des Strukturwa­ndels an ihren alten Strukturen festhalten.“Die Hitze – sie bleibt die Achillesfe­rse westlichen Vernunftde­nkens. Hitze ist in der westlichen Kultur mit Angst, Gewalt und Tristesse verbunden.

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