Der Standard

Die Physik der Migration

Man kann einen Damm bauen, um den Strom zu kontrollie­ren, den Fluss aufhalten kann man nicht: Migrations­bewegungen erreichen auch uns. Und: Es gibt keine Alternativ­e zu intelligen­ter Vorbereitu­ng.

- Ayad Akhtar Übersetzun­g aus dem Amerikanis­chen: Martin Thomas Pesl

Unsere Nationen beruhen nicht auf bloßen Ideen. Wir alle haben ein Zuhause, in dem wir geboren, einen Ort, an dem unsere Lieben gestorben sind. Wir haben die Felder und Straßeneck­en, wo wir uns ver- und entliebt, Helden, denen wir nachgeeife­rt haben, und Gegenspiel­er, die zu besiegen uns am Ende doch noch gelungen ist. Vor allem aber haben wir unsere Sprachen, die uns geformt haben, die uns die Welt beschreibe­n, in denen wir unsere Hoffnungen äußern, mit unseren Enttäuschu­ngen ringen, Wörter, die unserem Leben seinen Klang, seine Bedeutung und seinen Trost schenken. Ist es falsch von uns, all das nicht verlieren zu wollen? Es bewahren zu wollen vor der Invasion jener, die – wie wir annehmen oder sogar wissen – ihr eigenes Zuhause, ihre eigenen Felder und Helden und Wörter besitzen und die die unseren unmöglich so würdigen können, wie wir es unweigerli­ch tun?

Sie sind da, die mannigfalt­igen Krisen der Zukunft. Gut möglich, dass Syrien ein Präzedenzf­all für vieles ist, was uns bevorsteht: Dürre führt zu wirtschaft­licher Not und unverhältn­ismäßig starker Binnen wanderung aus den ländlichen in die städtische­n Gebiete. Die Bevölkerun­gs verschiebu­ngen heizenden seit langem schwelende­n Verdruss über das politische System weiter an. Spannungen zwischen dem Regime und seinen Menschen erzeugen Widerstand, dann Krieg. Die Infrastruk­tur bricht zusammen, die Gemeinscha­ft verliert all jene, die über das nötige Kleingeld verfügen, woanders hinzuziehe­n, um sich den eigenen Wohlstand oder schier das eigene Überleben zu sichern (oder beides). Es erfolgt also eine Bewegung aus einer Todeszone in eine Zone des Überflusse­s.

Das Wasser – für manche Kern der Syrien-Krise – ist nur eines der künftigen Probleme. Weltweit steigt der Meeres- und sinkt der Grundwasse­rspiegel. Dadurch wird sich das Zusammenle­ben von mehr als eineinhalb Milliarden Menschen in den nächsten dreißig Jahren radikal verändern. Die Physik der Migration hat etwas Unvermeidl­iches an sich. Die Gezeiten jener, die mit uns unbekannte­n Silben sprechen, die andere Gesichtszü­ge und Hautfarben haben als die Erzeuger unserer Nationen – diese Wellen des Unvertraut­en sind unbestreit­bar unterwegs zu uns. Man kann einen Damm bauen, um den Strom zu kontrollie­ren, aber den Fluss kann man nicht aufhalten.

Der große amerikanis­che Philosoph Ralph Waldo Emerson hat einmal geschriebe­n: „Die großen Männer, die großen Nationen waren keine Angeber und Narren, sie haben den Schrecken des Lebens erkannt und sich dafür gerüstet, ihm ins Auge zu sehen.“Mögen wir Emerson verzeihen, dass er die großen Frauen außen vor gelassen hat, und dennoch die Warnung vor den Narren in unserer Mitte beherzigen, die nicht gewillt sind, den durchaus realen Herausford­erungen der Zukunft zu begegnen. Emerson war auch ein großer Verehrer eines besonders entschloss­enen Nichtnarre­n: Christus selbst. Dass wir noch nicht die Kinder Christi sind, können wir daran er- kennen, dass wir noch nicht bereit sind, unser täglich Brot zu teilen, unsere Nächsten zu lieben wie uns selbst oder den Segen der Armut als den größten Dispens anzuerkenn­en.

Nein, wir lieben uns selbst viel zu sehr. Und wenn wir das jemandem verzeihen wollen, dann uns selbst. Denn die Probleme, die uns bevorstehe­n und deren Herannahen wir alle spüren, sind nicht allein auf den Unmut von Mutter Natur zurückzufü­hren.

Eigenliebe auf dem Prüfstand

Unvorberei­tet auf ihren Segen haben unsere Gemeinscha­ften unter den schädliche­n Seiten der Armut zu leiden. Gewisserma­ßen werden wir nicht mehr von unseren Vertretern regiert, sondern von einem System, das auf Geld aufbaut, um mehr Geld für sich selbst zu produziere­n. Es besteht kaum Zweifel, wie dieses Geld sich unsere Gesellscha­ft wünscht: Das von den Konzernen gepredigte Streben nach allumfasse­nder Effizienz wird nach einigen Schätzunge­n bis zu 50 Prozent der Arbeitskrä­fte in den wirtschaft­sstarken Ländern aufgrund von Digitalisi­erung und Automatisi­erung entrechten. Der Gewinn aus dieser Produktivi­tätssteige­rung wird sich in immer höheren Stapeln geliehenen Geldes niederschl­agen, sodass jene, die sowieso wenig davon haben, dank immer höherer Zinsen immer weniger davon haben werden. Unsere Gemeinscha­ften verfallen zusehends der Sucht nach Schulden, die alle arm machen, bis auf ein paar wenige, die sich in der Zentripeta­llogik des Systems schön mittig positionie­rt haben.

Für andere mag es so aussehen, als hätten wir hier Zonen des Überflusse­s, aber uns selbst erscheinen sie auch wie Todeszonen. Kommen werden sie trotzdem, weiterhin. Sie werden unsere Grenzen übertreten und über unsere Mauern klettern. Sie werden unseren Mist raustragen und uns Wasser zum Abendessen servieren und unsere Tische abräumen, wenn wir fertig sind. Ihren Kindern werden sie zärtlich zureden, auf unseren Straßen zu schlafen, wenn es sein muss.

Sie werden dazugehöre­n wollen, wenn auch auf ihre eigene Art, die wir für unzureiche­nd halten. Wir steuern also auf eine Zukunft zu, in der unsere Eigenliebe auf dem Prüfstand steht, eine Zukunft, in der unsere Gemeinscha­ften anders aussehen und klingen werden als zuvor, und wenn wir nicht aufpassen beim Versuch, diese Veränderun­gen zu bewältigen, aber auch bei unserem Umgang damit, dass sie uns so wahnsinnig stören, nun, dann kann es leicht sein, dass wir bald selbst in einem unlösbaren Dilemma gefangen sind: Unablässig geplündert und somit immer angreifbar­er geworden durch das Kapital kann es sein, dass wir auf diese Veränderun­gen unseres „sozialen“Klimas mit eigenen existenzie­llen Dramen reagieren, unseren eigenen schwelende­n Groll auf die Politik schüren und selbst in Unruhen und Gewalt aufgehen. Wenn wir nicht aufpassen, kann es passieren, dass unsere Gemeinscha­ften ebenso verlorenge­hen wie die Gemeinscha­ften derjenigen, die zu uns flüchten.

Es ist nichts dadurch gewonnen, dass man bevorstehe­nde Her- ausforderu­ngen verkennt. Ja, wir fühlen uns ärmer, ja, wir leiden. Ja, die, die kommen, um in unserer Mitte zu leben, nehmen das nicht so wahr. Ja, irgendwie geartete Mauern werden sich wahrschein­lich nicht vermeiden lassen, auch wenn sie sich am Ende als nutzlos erweisen. Aber es gibt keine Alternativ­e zu intelligen­ter Vorbereitu­ng. Intelligen­t, das heißt nicht nur nuanciert und maßvoll, sondern auch couragiert und realistisc­h. Wir müssen mutiger und umsichtige­r sein, als das die närrischen Angeber von uns verlangen. Vor allem aber dürfen wir uns nichts vormachen. Wir dürfen uns nicht vormachen, dass wir reicher sind, als wir sind, oder großzügige­r oder toleranter.

Nur indem wir uns selbst klarer sehen, lernen wir, die größte Hilfe zu sein, nicht nur für jene, die kommen, um in unserer Mitte zu leben – und deren Kinder früher oder später die unseren heiraten werden –, sondern auch und vor allem: für uns selbst.

Ayad Akhtar ist Dramatiker und Schriftste­ller. Er wurde 1970 in New York geboren und wuchs in Milwaukee, Wisconsin, auf. Akhtar schreibt für Theater, Film und Fernsehen. Sein Debütstück „Geächtet“wurde 2013 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeich­net. Akhtar wird am 25. August die Alpbacher Politische­n Gespräche künstleris­ch eröffnen. Außerdem nimmt er als Gast von Martin Kušej am Tag der Begegnunge­n teil. Dieser findet am 22. August im Rahmen des Europäisch­en Forums Alpbach statt, Künstlerin­nen und Künstler werden sich mit dem Thema „Diversität und Resilienz“auseinande­rsetzen. p www.alpbach.org

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Spanien 2018: Sie werden unsere Grenzen übertreten und über unsere Mauern klettern. Sie werden unseren Mist raustragen und uns Wasser servieren ...

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