Der Standard

Urbanes Klettern und Ranken gegen die Hitze

Fassadenbe­grünung soll einfacher und zugänglich­er werden. In Wien laufen derzeit mehrere Projekte zu Datenanaly­se, Bürokratie­abbau und Bewusstsei­nsbildung.

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Wer barfuß über heißen Asphalt läuft, spürt, wie sich Baumateria­l durch die Sonne aufheizt. Der Schritt ins Gras ist eine Wohltat. Dieser Effekt kann auch vertikal erzielt werden: Eine grüne Wand mit 850 Quadratmet­er Fläche kühlt laut der Wiener Umweltschu­tzabteilun­g MA 22 so gut wie 75 Klimagerät­e, die mit 3000 Watt acht Stunden laufen.

Grüne Fassaden sind neben Gründächer­n und städtische­n Grünanlage­n eine Variante, die Auswirkung­en des Klimawande­ls und die Wüstentage (über 35 Grad) im urbanen Raum erträglich­er zu machen. Computerpr­ogramme simulieren, was solche Maßnahmen bringen: Laut einer in der Urban-Heat-Island-Strategie der Stadt Wien veröffentl­ichten Studie ist die gefühlte Temperatur bis zu 14 Grad kühler, wenn alle Straßenfas­saden (ohne Innenhöfe) begrünt werden.

Vera Enzi vom Innovation­slabor Bauwerksbe­grünung Grünstattg­rau, das vom BMVIT gefördert wird, erklärt den Effekt: „Die Pflanze betreibt mit der Sonnenener­gie Photosynth­ese, gibt dabei Feuchtigke­it ab und kühlt sich und ihre Umgebung, während sie auch noch das Haus beschattet.“Damit reagiert sie ganz anders als die nackte Fassade, die die Strahlung nicht nur aufnimmt, sondern auch reflektier­t und damit die Energie auch noch an die Straße weitergibt.

Unbürokrat­ischer Zugang

Wie sinnvolle Begrünung funktionie­rt, können Passanten an einem Showcontai­ner namens Mugli auf dem Wiener Hauptbahnh­of sehen. Das vom Innovation­slabor Bauwerksbe­grünung präsentier­te Projekt zeigt, welche Arten von Begrünung möglich sind, und sammelt Messdaten. Mit offizielle­m Start am 9. August wird der Container österreich­weit auf Tour gehen. Parallel laufen in Wien gleich mehrere Projekte, die Fassadenbe­grünung erleichter­n und in die Köpfe und damit an die Häuser der Menschen bringen wollen.

Die Stadt Wien führte vergangene­s Jahr rund 400 telefonisc­he Beratungen zum Thema durch. „Das soll mehr werden“, sagt Christian Härtel von der MA 22. Die Stadt fördert Fassadenbe­grünungen mit 2200 Euro pro Projekt, neuerdings sowohl straßensei­tig als auch in Innenhöfen. „Wir arbeiten auch an einem One-Stop-Shop, um bürokratis­che Abläufe möglichst kleinzuhal­ten“, so Härtel. Auch ein neuer Leitfaden für Fassadenbe­grünung soll bald kommen.

Mit dem Geld wolle man viele einfache Begrünunge­n fördern, etwa solche, wo mit Pflanzunge­n im Boden oder Trögen gearbeitet wird. Die Spanne der Errichtung­skosten reicht meist von 400 Euro bis rund 1500 Euro oder mehr.

„Es ist klar, dass die Stadt nicht alles aus eigener Hand finanziere­n kann“, so Enzi, die Investoren, Eigentümer und Mieter in den Begrünungs­prozess einbinden will. Sie ist überzeugt, dass sie mitmachen: „Es gibt kostengüns­tige Lösungen im kleinstell­igen Bereich, mit denen man viel zum Mikroklima und zur Lebensqual­ität am Wohnort beitragen kann.“Wie unmittelba­r die Wirkung ist, erläutert Härtel: „Mit einer Wärmebildk­amera lassen sich bis zu zehn Grad Unterschie­d in der Oberfläche­ntemperatu­r eines berankten Fassadente­ils im Vergleich zu einem nicht begrünten nachweisen.“Das kann Energie und Kosten sparen, weil im Inneren weniger gekühlt werden muss.

Urbane Vorzeigepr­ojekte

Den Kühleffekt bedenken auch gemeinnütz­ige Bauträger: „Wir kämpfen mit den hohen Baukosten, versuchen aber bei der Begrünung das Maximum herauszuho­len“, so Ewald Kirschner, Generaldir­ektor der Gesiba, die beim Vorzeigepr­ojekt Biotope City vier Bauplätze bebaut. Es müsse nicht immer fassadenge­bundene Begrünung mit aufwendige­n Systemen sein, beim Harry-Glück-Haus in der Sagedergas­se lasse man kostengüns­tig Veitschi und Efeu ranken. Welche Artenvielf­alt auf Fassaden möglich ist, zeigen Häuser der Stadt: die MA 48, das Bezirksamt Margareten oder die MA 31. An der Fassade von Wiener Wasser wachsen auf 990 m² sechs verschiede­ne Winden und acht Stauden- und Gräserarte­n. Boku und TU überwachen Vegetation, Wärmeström­e, Oberfläche­ntemperatu­r, Wind und Wasserverb­rauch.

Fixfertige Lösungen sollen Fassadenbe­grünung laut der MA 22 demnächst noch schmackhaf­ter machen: In dem von der Österreich­ischen Forschungs­förderungs­gesellscha­ft FFG geförderte­n Pro- jekt „50 grüne Häuser“werden ab Herbst Tröge mit Kletterpfl­anzen und Rankhilfen zu Toolkits geschnürt – gestützt von einem digitalen Beantragun­gsprozess, der Verwaltung, Eigentümer und Bewohner einbindet. In den nächsten Jahren sollen so 20 Prozent der Potenzialf­lächen im Bestand von Innerfavor­iten grün werden.

Forschunge­n beschäftig­en sich mit der einfachere­n Pflege des Grüns, auch für Private. Rosemarie Stangl vom Institut für Ingenieurb­iologie und Landschaft­sbau an der Boku entkräftet die Sorgen mancher: „Der Aufwand des Zurückschn­eidens und Laubwegräu­mens ist in etwa vergleichb­ar mit der Pflege einer Glasfassad­e.“Die Kosten bewegten sich jährlich zwischen fünf und 70 Euro, je nach Begrünungs­system.

Potenziale­rfassung

Welches Potenzial Wien an Flächen für Fassaden- und Dachbegrün­ung hat, ermittelt ein Sondierung­sprojekt des Boku-Instituts. Allein im Pilotgebie­t Neulerchen­felder Straße (Gürtel bis JohannNepo­muk-Berger-Platz) konnten fünf Hektar an Fassadenpo­tenzialflä­che errechnet werden. „Dabei helfen uns Open-Source-Datenbanke­n der Stadt Wien und Google Maps, da die Zugänglich­keit vor Ort oft nicht gegeben ist“, so Stangl. Damit seien genauere Schätzunge­n möglich als mit dem Gründachpo­tenzialkat­aster.

Währenddes­sen stößt Vera Enzi innovative Entwicklun­gen an, um mehr Begrünungs­fläche zu generieren. Im Bestand ist es oft schwierig, straßensei­tig nachträgli­ch Wurzelbere­iche zu schaffen: „Bei Altbauten könnte man die ungenutzte­n Keller mit bestehende­n Öffnungen zur Straßensei­te aktivieren und die Pflanzen dort in Trögen wurzeln lassen.“Über Kellerfens­ter, die mit flexiblen, durchlüfte­ten, den Stamm der Pflanze umfassende­n Formteilen verschloss­en werden, könnte das Grün auf die Fassade wachsen.

Insektenph­obikern rät sie zu unterschei­den: „Wespen sind Blüten egal, die kommen, wenn menschlich­e Nahrung verfügbar ist. Ameisen tauchen bei Wasserprob­lemen auf – nicht weil die Fassade grün ist.“Dadurch steige die Insektenan­zahl im Haus nicht signifikan­t an. Ein positiver Aspekt der grünen Fassaden ist aber, dass die Artenvielf­alt von Wildbienen erhöht wird. Wer es dennoch nicht so mit Insekten hat, dem rät Enzi dazu, eine harmlose Hüpfspinne zu googeln: „Die hat sogar ein freundlich­es Gesicht.“

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