Abrechnung mit Europa
Frank Castorf unternimmt mit seiner alten Volksbühnen-Mannschaft einen Festspielausflug in das Norwegen Knut Hamsuns. Die Inszenierung von „Hunger“auf der Perner-Insel ist eine famose Abrechnung mit Europa.
Frank Castorf inszeniert mit seiner alten Volksbühnen-Mannschaft Hunger von Hamsun bei den Salzburger Festspielen.
Man muss für die Norweger, die Landsleute Knut Hamsuns, lukullisches Mitleid empfinden. Der Erstling des nachmaligen Literaturnobelpreisträgers nennt sich Hunger (1890). Das Buch handelt von den Irrwegen eines mittellosen Jünglings, der mit knurrendem Magen durch Kristiania (heute: Oslo) streift. Ein zerlumpter Wolf, der für einen Bissen Brot töten würde; der es aber nicht fertigbringt, die abgewetzten Knöpfe seiner Jacke dem Pfandleiher unterzujubeln.
In der Salinenhalle der PernerInsel dreht sich Norwegens alte Hauptstadt wie eine Gralsburg im Kreis: ein Monsalvat aus skandinavischer Lärche. Frank Castorf hat wieder die alte VolksbühnenMannschaft um sich versammelt: ein bewährtes Abrisskommando der Moderne, dessen Mitglieder jedes Romangebirge zuverlässig in scharfkantige Brocken verwandeln.
An Hamsun (1859–1952) muss sich jeder schneiden. Dieser Prosaartist diente sich und seine Schreibkunst noch im hohen Alter bereitwillig Hitler und den Nazibesatzern Norwegens an. Und so sieht man auf Aleksandar Denićs Bühne Skandinaviens Wald vor lauter NS-Runen nicht. „Swastika! Swastika!“, brüllt der dauererregte Marc Hosemann gleich am Anfang. Ausgerechnet auf dem Schild einer weltberühmten Bierfirma prangt beunruhigend das Hakenkreuz.
Marder in Gesellschaft
Hosemann wird während der nächsten fünf, sechs Stunden in die Rolle eines Hungerkünstlers schlüpfen. Er ist der fieberäugige Agent der Auflehnung (und somit das Alter Ego seines Regisseurs). Wie ein Marder umkreist er die Gesellschaft der auskömmlich gegessen Habenden. Castorf, der kluge Anarchist vom Prenzlauer Berg, gibt wiederum zu verstehen: Wie den Kläffer und Antisemiten Céline, so muss man auch den Empörer Hamsun genau betrachten, um dessen antizivilisatorische Polemik neu zu entdecken. Und um den unverzichtbaren Gehalt von der braunen Schlacke zu scheiden.
Zu den unbedingten Errungenschaften des nach-Hamsun’schen Zeitalters gehört die Idee des Schnellgerichts. Eine Seite der Drehbühne wird von einer McDonald’s-Filiale eingenommen. Hier vollenden die Schauspieler bei Bedarf auch ein paar Burger selbst, oder sie betrachten – wie die wunderbare Sophie Rois – versonnen ein Würstchen, das es so auf der ganzen Welt in keinem Schnellimbiss gibt.
Die unmittelbare Not des Hungerleidens entspringt wohl einer „Laune Gottes“. Und der massige Josef Ostendorf startet eines der unzähligen Soli des Abends: einen Wutschrei gegen die verfehlte Schöpfung. Der in eine Orgie der oralen Luftabfuhr mündet.
Die Stimmung dieses mehr flächigen Theaterabends illustriert ein schwer fassliches Übel der Moderne. Die Prosalandschaft wird von den kommenden Nazis bevölkert: von den Kollaborateuren der Massenmörder. Sie blicken als blonde Nordmenschen von den Rekrutierungsplakaten der SS herunter. Oder sie steuern mit Benzinfässern in der Fahrradablage durch das sterbende Europa. Die zu stellende Diagnose: Tod durch akute Sinnkrise. Armut ist (auch) ein spirituelles Phänomen.
Castorf und sein Dramaturg Carl Hegemann haben sich nicht damit begnügt, an jene Erniedrigten und Beleidigten zu erinnern, aus deren Mitte ein gewisser Hitler entsprang. Sie haben den so übersichtlich abrollenden Hunger- Roman mit dem recht verschlungen erzählten Zweitwerk Mysterien (1892) verschnitten.
Irrungen und Wirrungen
Die Tachonadeln der Erregung hüpfen hin und her, denn ein ganzer Schwarm skandinavischer Frauen reißt sich um den mysteriösen Heimkehrer Johan Nagel (trompetend: Lars Rudolph). Der trägt zitronengelbe Anzüge.
Er verdreht allen die Köpfe und rettet verhöhnte Außenseiter der Gesellschaft vor rohen Gewaltausbrüchen. So wundersüß CastorfStars wie Kathrin Angerer diese Prosakaskaden wiedergeben: Man klinkt sich zu fortgeschrittener Stunde aus den Irrungen und Wirrungen der vorletzten norwegi- schen Jahrhundertwende aus. Mag Hunger somit auch nicht zu den raren Spitzenerzeugnissen der Romanverwertungsanstalt Castorf zählen: Festspiel-Salzburg, das für die Eskapaden der Sommerhitze ja nichts kann, darf sich glücklich schätzen, diesen schwer verdaulichen Brocken im Angebot zu führen.
Ein Bild bringt die entsetzliche Daseinsnot Andreas Tangens, des Helden von Hunger, zum Ausdruck. Im Delirium der Entbehrung geht er dazu über, den eigenen Zeigefinger zu verzehren.
Spätere Versuche, einer schwarz verschleierten Damenbekanntschaft (Lilith Stangenberg) erotisch näherzutreten, fallen der Entkräftung zum Opfer. Hinter der Ideologie des „Übermenschentums“flackert die Angst vor den Frauen. Castorfs Schauspielerinnen aber, abgefilmt hinter den Holzverschlägen Denićs, behaupten triumphal keifend ihr Recht auf Selbstbestimmung: Megären des Fortschritts, Diven des Punk.
Die stark gelichteten Reihen der Festspielgäste spendeten herzlichen Beifall. Frank Castorfs Archäologie der Moderne ist für das Gegenwartstheater bis auf weiteres unverzichtbar. Da nimmt man auch das leidlich Geglückte gerne hin und hält es für großartig.