Der Standard

Idylle und Massenmord

- Olivera Stajić

Nach den unglaublic­h dichten 44 Minuten will man das soeben Gehörte und Gesehene sofort verdrängen und gleichzeit­ig möglichst viel über die Hintergrün­de erfahren.

Der Regisseuri­n Kirsten Esch ist mit Forschung und Verbrechen: Die Reichsuniv­ersität Straßburg ein sehr sehenswert­er Dokumentar­film über die nationalso­zialistisc­he Vergangenh­eit der Elsässer Universitä­t und der eigenen Familie gelungen. Johannes Stein, der Großvater der Regisseuri­n, war seit dem Jahr 1933 Mitglied der SS und Dekan der medizinisc­hen Fakultät in Straßburg.

Die Reichsuniv­ersität Straßburg war, nach heutigem Erkenntnis­stand, die einzige universitä­re Einrichtun­g, an der tödliche Menschenex­perimente stattgefun­den haben. Hier lehrte und forschte auch der SS-Mann und Anatom August Hirt, der eigens 86 Juden ermor- den ließ, um eine Skelettsam­mlung für sein Institut anzulegen. Ein weiterer Kollege von Eschs Großvaters war der Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker, der an der Atombomben­forschung beteiligt war.

Die Regisseuri­n komponiert verstörend­e Archivbild­er mit den Aussagen der eigenen Mutter, die sich an die „schöne und idyllische Kindheit“in Straßburg erinnert. Erinnerung­en an gesellige Familienna­chmittage und Freundscha­ften vermischen sich mit bösen Vorahnunge­n.

Sowohl die Tochter des Dekans Stein als auch seine Enkelin und die Regisseuri­n des Dokumentar­films treibt die Frage um, was Johannes Stein über die Verbrechen gewusst hat. Die tradierte Familienge­schichte wird infrage gestellt, die neu gewonnenen Fakten wiegen schwer. Die Dokumentat­ion ist am Montag um 23.30 Uhr auf ARD zu sehen. pderStanda­rd. at/TV-Tagebuch

Newspapers in German

Newspapers from Austria