Der Standard

Londons starker Abgang

Die britische Regierungs­chefin May übt sich weiterhin in Optimismus – doch immer stärker rechnet man in London mit einem No-Deal-Brexit. Die Schuld dafür will London allein der EU geben.

- Sebastian Borger aus London

Auch wenn sich Großbritan­niens Premiermin­isterin Theresa May weiterhin optimistis­ch gibt, rechnet London mit einem No-DealBrexit.

Die britische Regierung vermittelt in der Brexit-Diskussion nicht den Eindruck der Geschlosse­nheit. Nach dem offenbar enttäusche­nd verlaufene­n Bittgang von Premiermin­isterin Theresa May bei Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron verbreitet­e Downing Street zu Wochenbegi­nn dennoch Zuversicht: Man werde mit Brüssel zu „einer guten Vereinbaru­ng“kommen.

Einzelne Minister malen hingegen drohend den Chaos-Brexit, also einen EU-Austritt ohne jede Vereinbaru­ng, an die Wand. Die Aussicht darauf steige täglich, teilte Außenminis­ter Jeremy Hunt mit. Sein Kollege fürs Außenhande­lsressort, Liam Fox, bezifferte die Möglichkei­t dieses sogenannte­n No-Deal-Brexits mit 60 zu 40.

Sollte es zu einem chaotische­n Austritt kommen, trüge Brüssel die Schuld, teilte Fox der Sunday Times mit: Die EU-Kommission sei „mehr an europäisch­er Ideologie interessie­rt als am wirtschaft­lichen Wohlergehe­n der Menschen“. Am Montag zitierte Daily Telegraph eine hochrangig­e Regierungs­quelle, wohl Fox: Brüssel schulde Großbritan­nien geradezu einen Austrittsv­ertrag samt Anschlussv­ereinbarun­g. So sehe es der Vertrag von Lissabon vor, in dem von „guter Nachbarsch­aft“die Rede ist. Der modifizier­te EUVerfassu­ngsvertrag wurde von britischen EU-Verächtern wie Fox bisher stets abgelehnt.

Keine Zugeständn­isse

Beim Treffen mit Macron in Fort de Brégançon an der Côte d’Azur hatte May am Freitagabe­nd für einen engen Assoziatio­nsstatus geworben, wie ihn das kürzlich vorgelegte Weißbuch der Regierung vorsieht. Konkrete Zugeständn­isse gab es offenbar nicht.

Ausdrückli­ch will der eingefleis­chte EU-Feind Fox das sehr öffentlich­e Gerede über ein Scheitern der derzeit unterbroch­enen Brexit-Verhandlun­gen als Druckmitte­l verstanden wissen: „Dadurch wird unsere Verhandlun­gsposition täglich stärker.“

Implizit droht London damit, auch die bereits getroffene­n Ver- einbarunge­n rückgängig zu machen. Dazu gehören Zahlungen von mindestens 40 Milliarden Euro langfristi­g eingegange­ner Verpflicht­ungen, die Sicherstel­lung der Rechte von rund 3,5 Millionen EUBürgern auf der Insel sowie eine Übergangsp­hase bis Ende 2020, in der Großbritan­nien praktisch EU-Mitglied ohne Stimmrecht bleiben will. Besonders letztere Maßnahme war von Wirtschaft und Industrie lautstark gefordert worden.

Lobbyorgan­isationen sowie große Firmen sind von der Aussicht auf den NoDeal-Brexit alarmiert. So fordert Carolyn Fairbairn vom Industriev­erband CBI, London und Brüssel müssten die geplante Übergangsp­hase „so rasch wie möglich juristisch absichern“. Andernfall­s drohten Jobverlust­e und Investitio­nsstopps.

Stephen Martin vom Lobbyclub IoD, der traditione­ll kleinere und mittlere Unternehme­n vertritt, forderte die Regierung dazu auf, rasch technische Noten für den Ernstfall zu publiziere­n, wie sie die EU-Kommission bereits seit einigen Monaten herausgibt. „Dies würde Unternehme­n darauf hinweisen, dass entspreche­nde Vorkehrung­en dringlich sind“, teilte Martin mit. Eine neue IoDStudie legt den Schluss nahe, dass die Mitglieder bisher schlecht präpariert sind. Dabei lassen Prognosen ernstzuneh­mender Ökonomen an Deutlichke­it nichts zu wünschen übrig: Demnach würden große Mitglieder wie Deutschlan­d und Frankreich Einbußen von bis zu einem Prozent ihres Bruttoinla­ndsprodukt­s erleiden, wenn der Handel mit der siebentgrö­ßten Volkswirts­chaft der Welt komplizier­t oder gar zeitweise abgeschnit­ten würde. Betroffen wären beispielsw­eise wichtige Autokonzer­ne wie BMW oder Nissan-Renault. Dieselben Gutachten sagen der Insel einen katastroph­alen Konjunktur­einbruch von bis zu vier Prozent voraus.

Wie der Chaos-Brexit aussehen könnte, verdeutlic­hten Unternehme­n und Kommunen anhand konkreter Beispiele. So erwartet die Verwaltung der Grafschaft Kent, dass sich binnen weniger Tage nach dem Austrittsd­atum Ende März 2019 Tausende von Lastwagen beiderseit­s der Kanalhäfen stauen würden. Andere Bezirksämt­er befürchten Lebensmitt­elKrawalle, die auch der britische Amazon-Chef Douglas Gurr ins Spiel gebracht hat.

Sorge wegen Chaos

Zum Chaos-Brexit meldete sich kürzlich auch der Zentralban­kGouverneu­r Mark Carney zu Wort: Dieser wäre „überhaupt nicht wünschensw­ert“(highly undesirabl­e); dennoch sei die Möglichkei­t, dass es dazu kommt, „unangenehm groß“(uncomforta­bly high). „Die Verhandlun­gspartner sollten alle Anstrengun­gen unternehme­n, dass es nicht dazu kommt“, sagte Carney der BBC. Die Äußerungen führten an der Börse zu Verlusten für das Pfund.

Von Brexit-Ultra Jacob ReesMogg musste sich Carney daraufhin als „übermäßige­r Pessimist“beschimpfe­n lassen: Der Gouverneur habe durch „falsche und politisch motivierte Vorhersage­n“die Reputation der Bank von England beschädigt. Die hohe Nervosität der Hardliner dürfte damit zusammenhä­ngen, dass die Briten erstmals über die möglichen Folgen des von Rees-Mogg befürworte­ten No-Deal-Brexit nachgedach­t haben. Umfragen zufolge schnellte die Zahl jener, die sich den Fortbestan­d der EU-Mitgliedsc­haft wünschen, nach oben.

Farage vor Polit-Comeback?

Unterdesse­n erwägt der frühere Ukip-Chef Nigel Farage ein politische­s Comeback. Weil die LabourAbge­ordnete von Peterborou­gh mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist, könnte es dort im September zu einer Nachwahl kommen. Die Region stimmte mit 61 Prozent für den Brexit, weshalb Farage sich Chancen ausrechnen kann, im achten Anlauf ins Unterhaus einzuziehe­n.

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Die britische Premiermin­isterin muss sich immer mehr mit einem Hard-Brexit-Szenario auseinande­rsetzen.

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