Der Standard

Am Anfang war die Heimat

- András Szigetvari

Rund 63.000 Menschen kamen seit Jahresbegi­nn über die gefährlich­e Mittelmeer­route nach Europa. Was treibt diese Menschen an, ihre Heimat zu verlassen? der Standard widmet sich den Lebensumst­änden in den wichtigste­n Herkunftsl­ändern. Fünf Thesen zum Phänomen Migration als Serienauft­akt.

Etwa ein Drittel der Bevölkerun­g Guineas gilt laut Uno als extrem arm, was bedeutet, dass sie weniger als 1,9 USDollar am Tag zum Leben haben. Die durchschni­ttliche Lebenserwa­rtung im Land liegt bei 59,2 Jahren, in Österreich sind es 81,6. Von 1000 lebend geborenen Kindern versterben in Guinea 58. Die Sterberate ist damit um 1833 Prozent höher als in Österreich. Guinea exportiert kaum etwas anderes als unverarbei­tete Rohstoffe.

Marokko ist anders. Das Land gehört zu einer Gruppe von Staaten mit mittleren Einkommen, die Lebenserwa­rtung liegt bei 74 Jahren. Die Jugendarbe­itslosigke­it ist zwar hoch, doch Marokko hat zuletzt einige stolze Investitio­nsprojekte an Land gezogen. Der Autobauer Peugeot PSA eröffnet gerade in der nordmarokk­anischen Stadt Kenitra ein Automobilw­erk.

Was Marokko und Guinea gemeinsam haben? Es sind zwei der Länder, aus denen seit Jahresbegi­nn 2018 die meisten Menschen über das Mittelmeer nach Europa kamen. der STANDARD widmet im August den wichtigste­n Herkunftsl­ändern der Migranten eine Serie und geht der Frage nach, wie die sozialen und wirtschaft­lichen Perspektiv­en vor Ort sind. Elf Staaten stehen auf der Liste, nicht aber Syrien: Warum Menschen aus dem Bürgerkrie­gsland fliehen, ist klar. Die Reise führt unter anderem vom Sudan über Nigeria, Eritrea, die Elfenbeink­üste, Marokko, Tunesien und den Irak bis nach Pakistan. Zum Einstieg fünf Thesen über falsche Gewissheit­en und unangenehm­e Wahrheiten in der Migrations­debatte.

Mehr Wohlstand bedeutet nicht unbedingt weniger Migration

Wer Migrations­ströme nach Europa stoppen will, muss vor Ort helfen. Dieser Spruch gehört inzwischen zum Standardre­pertoire vieler Politiker. Doch er ist falsch. Wenn Menschen ihr Land verlassen und tausende Kilometer lange Wege zurücklege­n, brauchen sie dafür Geld. Für Schlepper, für Nahrung für Unterkünft­e. Erst wenn eine Gemeinde oder eine Familie genug zusammenle­gen kann, wird die Reise für Einzelne aus der Gemeinscha­ft leistbar. Der Ökonom Michael Clemens vom Washington­er Center for Global Developmen­t hat in einer Studie Migrations­ströme seit den 1960er-Jahren untersucht. Das zentrale Ergebnis lautet, dass bis zu einer gewissen Schwelle bessere Lebensbedi­ngungen dafür sorgen, dass mehr und nicht weniger Menschen kommen. Erst ab einem Pro-Kopf-Einkommen von 7000 bis 8000 US-Dollar beginnt Migration bei wachsendem Wohlstand zurückzuge­hen. Mali, Sudan, Eritrea und die Elfenbeink­üste sind noch weit weg von dieser Schwelle, Pakistan ist nah dran, der Irak und Tunesien sind drüber.

Entwicklun­gshilfe ist das falsche Instrument

Der Anthropolo­ge und Lektor an der London School of Economics, Jason Hickel, argumentie­rt in seinem neuen Buch Die Tyrannei des Wachs

tums, dass Entwicklun­gshilfe der falsche Weg ist, um ärmere Länder zu unterstütz­en. In den vergangene­n Jahrzehnte­n hat sich eine „Entwicklun­gshilfeind­ustrie“ent- wickelt, so Hickel. Die Treiber dahinter, vor allem NGOs, setzen sich nicht mit den tieferen wirtschaft­lichen Ursachen für Armut auseinande­r, sondern implementi­eren nur wenig wirksame Einzelproj­ekte.

Was Hickel mit tieferen Ursachen meint, sind strukturel­le Probleme. Er belegt sein Argument mit einem Beispiel: Sieht man sich die Zahlungsst­röme aus Industrie- in Entwicklun­gsländern an, dann zeigt sich, dass aus den ärmeren Staaten netto viel mehr Kapital in die Industriel­änder abfließt als umgekehrt. Seit den 1980er-Jahren habe sich der negative Saldo auf 26,5 Billionen US-Dollar kumuliert, so Hickel, „Entwicklun­gshilfe ist verschwind­end gering, geradezu lächerlich, wenn man es mit den strukturel­len Verlusten und Abflüssen vergleicht, die der globale Süden erleidet“. Der teure Schuldendi­enst macht einen großen Anteil an dieser Entwicklun­g aus. Laut Zahlen der britischen NGO Jubilee Debt Campaign verwenden einige afrikanisc­he Länder ein Fünftel ihrer Einnahmen für Zinstilgun­gen. Im Falle Tunesiens waren es im vergangene­n Jahr 27 Prozent. Empfänger dieser Zahlungen sind oft westliche Investoren, das Geld fehlt dafür in der Heimat.

Nötig sind vor allem Handel und bessere Investitio­nen

Woran ärmere Länder und im Besonderen der afrikanisc­he Kontinent leiden, sind fehlende Investitio­nen und fehlender Handel. Die Weltbank veröffentl­icht regelmäßig Berichte darüber, wie sehr Länder in globale Produktion­sketten eingebunde­n sind. Viele Industrie- und Schwellenl­änder ver- danken ihren Wohlstand der Tatsache, dass sie an Produktion­sketten teilhaben, also einzelne Komponente­n für Autos, Flugzeuge oder Handys herstellen. Afrika ist der Kontinent, der mit Abstand am geringsten partizipie­rt. Das zweite Problem ist der fehlende regionale Handel. Handel treiben meistens Länder mit umliegende­n Staaten. 70 Prozent der Exporte aus EU-Ländern gehen in andere EU-Staaten. In Asien bleiben 60 Prozent der Exporte auf dem Kontinent. In Afrika liegt diese Quote bei nur 18 Prozent. „Eine stärkere Verschränk­ung der panafrikan­ischen Handelsbez­iehungen ist das, wovon der Kontinent am meisten profitiere­n könnte“, sagt die Handelsexp­ertin Liz May von der Londoner NGO Traidcraft.

Bei Investitio­nen liegt das Problem woanders: Laut der Uno-Organisati­on für Handel und Ent- wicklung, Unctad, wird in Afrika zu oft in den Rohstoffse­ktor investiert. In manchen Jahren entfallen 80 Prozent der Investment­s auf dem Kontinent auf Erdöllände­r wie Angola und Nigeria, dann kommt noch Bergbau dazu. Diese Geldflüsse sind volatil, weil die Rohstoffpr­eise volatil sind. Zudem profitiere­n laut Unctad bei Rohstoffin­vestments lokale Gemeinden kaum.

Europa muss seine schädliche­n Praktiken einstellen

Einige der Herkunftsl­änder der Migranten wie Mali und Nigeria gelten laut Transparen­cy Internatio­nal als die korruptest­en der Erde. Kaputte Institutio­nen und Korruption sind wesentlich schuld daran, dass arme Länder arm bleiben. Das zeigen viele Untersuchu­ngen. Die unangenehm­e Wahrheit aus europäisch­er Sicht ist, dass Europa an dieser Entwicklun­g teilhat. Ein großer Teil der Nettofinan­zströme, die aus Entwicklun­gsländern abfließen, besteht aus Schwarzgel­d.

Ein beträchtli­cher Teil davon landet in Europa. Hier befinden sich laut Tax Justice Network drei der zehn größten Steueroase­n: die Schweiz, Luxemburg und diverse zum Vereinigte­n Königreich zählende Inseln. Internatio­nal wird gegen die Praktiken vorgegange­n. So startet derzeit ein globales System, bei dem jedes Land erfahren soll, welche Konten seine Staatsbürg­er im Ausland haben. Über hundert Länder machen mit. Aus Afrika sind nur Ghana, Nigeria und Südafrika dabei. Den Staaten fehlen Know-how und Geld, um die Strukturen für den Datenausta­usch zu schaffen.

Ein anderer Knackpunkt betrifft den Handel: Die ärmsten Länder der Welt dürfen zwar zollfrei in die EU exportiere­n, doch mit afrikanisc­hen Staaten, die nicht zu dieser Gruppe gehören, schließt die Union Freihandel­sabkommen. „Dabei drängt die EU auf Marktöffnu­ng in den betroffene­n Ländern, obwohl die regionale Industrie oft nicht wettbewerb­sfähig ist“, sagt Handelsexp­ertin Liz May.

Es gibt innovative Ideen und Grund für Optimismus

Eine gute Nachricht lautet, dass es viele Ideen dafür gibt, um ärmeren Ländern den rascheren Aufstieg zu ermögliche­n. Handelsexp­ertin May fordert, dass die EU sich für Importe aus afrikanisc­hen Staaten öffnet und Ländern dort trotzdem erlaubt, sensible Industriez­weige mit Zöllen zu schützen. Der Buchautor Hickel plädiert für einen globalen Mindestloh­n, der regional unterschri­tten werden dürfte, solange ein Land besonders arm bleibt. Die gute Nachricht lautet, dass es Gründe für Optimismus gibt. Einige der Länder, die der

STANDARD beleuchtet, entwickeln sich positiv: In der Elfenbeink­üste hat sich das Pro-Kopf-Einkommen seit Mitte der 1990er-Jahre immerhin mehr als verdoppelt.

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