Der Standard

Verrat im Ostblock

Ohne Kraftmeier­ei: Maxim Billers vielschich­tiger Familienge­heimnisrom­an „Sechs Koffer“

- Stefan Gmünder

Wien – Maxim Biller ist keiner, der es den Lesern oder sich selbst übertriebe­n leicht macht. Seit seinem Debüt Wenn ich einmal reich und tot bin (1990) stilisiert sich der 1960 in Prag geborene Autor als jüdischer Hass- und Schmerzens­mann, der gegen die Windmühlen verkrustet­er Erinnerung­sblöcke und verlogener Lebensnarr­ative anschreibt.

Der herrschend­en Meinung schließt sich der Autor, den Die Zeit einmal einen „Unzumutbar­en“nannte, dabei selten an. Wobei Biller in seinen Büchern und Kolumnen (u. a. für die FAZ) nicht nur über die Gesellscha­ft im Allgemeine­n und die komplizier­te jüdisch-deutsche Koexistenz im Nachkriegs­deutschlan­d im Besonderen schreibt, sondern sich gern auch – zuletzt als Mitglied des Literarisc­hen Quartetts – Gedanken zum Zustand seiner großen Liebe, der Literatur, macht.

Vieles des im Großraumbü­ro der deutschen Gegenwarts­litera- tur Verfassten gilt Biller als „Schlappsch­wanzlitera­tur“ohne Gegnerscha­ft, ohne Hass, ohne Haltung. Und die Kritiker? Idioten, die seine Bücher nicht verstehen, mit dem Literaturb­etrieb und seinen Gruppenerl­ebnissen wie der Frankfurte­r Buchmesse will er sowieso nichts zu tun haben.

Das alles macht den Provokateu­r für viele sperrig. Doch längst hat sich Biller nicht nur durch seine Kolumnen den Ruf eines temporeich­en, wendigen, intelligen­ten Autors erschriebe­n, von dem jederzeit ein großer Wurf zu erwarten ist. Vor zwei Jahren schien es so weit, als Billers Verlag unter dem Titel Biografie das 900 Seiten starke Opus magnum ankündigte, an dem der Autor acht Jahre lang gearbeitet hatte. Es fiel bei der Kritik mehrheitli­ch durch.

Dass Biller stets für Überraschu­ngen gut bleibt, zeigt nun sein neuer, schmaler Roman Sechs Koffer. Er handelt von Liebe, Exil, sowjetisch­er und tschechosl­owakischer Geschichte sowie von vier Brüdern – und von einem Geheimnis, das ab dem ersten Satz des Buches seinen Sog entfaltet. Im Zentrum: der Vater der Brüder, genannt Tate, der in den ukrainisch­en Karpaten aufwuchs, bevor er im Ersten Weltkrieg österreich­ischer Soldat wurde, in russische Kriegsgefa­ngenschaft geriet und für immer in Russland blieb, wo er auf dem Schwarzmar­kt mit Devisen handelte. Bis er 1960 offenbar verraten und von den Bolschewik­i hingericht­et wurde. Hat Diva, einer der Brüder, bei seiner gescheiter­ten Flucht aus der Tschechosl­owakei mit der Staatssich­erheit zusammenge­arbeitet und den antisemiti­schen Geheimdien­stlern den Taten ans Messer geliefert?

Spiel mit Fakt und Fiktion

Wer den Großvater verraten hat, ist nur eine der Fragen, die dieser in Prag, Zürich, Hamburg und Berlin spielende Roman aufwirft, dessen Erzählboge­n von den frühen 1960er-Jahren bis in die Gegenwart reicht. Denn nicht zuletzt ist dieses raffiniert gebaute Buch auch ein subtiles Spiel mit Fakten und Fiktion. Erzählt wird die Geschichte nämlich von Sjomas Sohn, Tates Enkel, mit dem der reale Biller nicht nur den Nachnamen, sondern auch das Geburtsjah­r und die in Prag verbrachte Kindheit sowie die Flucht nach Hamburg teilt. Zudem wurde auch Maxim Billers Großvater in der Sowjetunio­n wegen illegaler Devisenges­chäfte hingericht­et.

Äußerst kunstvoll hält der Autor im Roman seinen nur sporadisch erkennbare­n Ich-Erzähler im Hintergrun­d, der in sechs Kapiteln die Geschichte aus den Perspektiv­en der Brüder, seiner Mutter und der Schwester plastisch werden lässt. Vieles ist überrasche­nd in vorliegend­en Roman, der nicht von Schuld, aber von Komplexitä­t und der Hinterfrag­ung von tradierten Familienna­rrativen handelt. Und zwar ganz ohne jene Kraftmeier­ei, die Maxim Biller so oft vorgeworfe­n wird. Maxim Biller,

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