Der Standard

Den Gendefekt im Kopf nachstelle­n

Ein neuer Weg zum Züchten künstliche­r Nervenzell­en bietet Chancen für die Autismus-Forschung.

- Kurt de Swaaf

Ganz so selten ist das Phänomen nicht. Laut Berechnung­en der Weltgesund­heitsorgan­isation WHO entwickelt im statistisc­hen Durchschni­tt eines von 160 Kindern eine autistisch­e Störung. Weltweit dürften somit rund 25 Millionen Menschen betroffen sein. Typische Anzeichen wie Zwangsverh­alten treten in den ersten fünf Lebensjahr­en auf, doch die Symptome und ihre Ausprägung­en sind überaus vielfältig. Autismus ist eine sehr individuel­le Krankheit, wie Fachleute immer wieder betonen. Kein Patient gleicht dem anderen. Diese Diversität verwundert allerdings kaum, wenn man die mutmaßlich­en Ursachen des Leidens in Betracht zieht. Autismus ist zu einem wesentlich­en Teil erblich begründet. Experten schätzen, dass bis zu 80 Prozent der Erkrankung­en von Gendefekte­n ausgelöst werden. In den meisten Fällen scheinen nicht einzelne DNA-Codes, sondern eine Reihe von Chromosome­nabschnitt­en geschädigt zu sein. Deren Zusammenwi­rken ergibt vermutlich das komplexe Störungsbi­ld.

Für die Autismusfo­rschung stellt die Vielfalt ein ernsthafte­s Problem dar. Wer die Stoffwechs­elvorgänge und ihre Abweichung­en verstehen will, kann nicht einfach im Gehirn der Patienten nachsehen. Die biochemisc­he Kommunikat­ion zwischen den Neuronen ließe sich womöglich in Zellkultur­en studieren, aber auch hier gibt es Schwierigk­eiten. Man braucht einerseits eine ausreichen­de Zahl an Nervenzell­en, und diese müssen gleichzeit­ig die potenziell krankheits­erregenden Gendefekte aufweisen. Woher nehmen? Die Köpfe der Betroffene­n sind keine Schürfgrub­en.

Manipulier­te Zellkultur­en

Marius Wernig hat offenbar eine Lösung gefunden. Der österreich­ische Molekularb­iologe, der an der kalifornis­chen Stanford University tätig ist, befasst sich intensiv mit der Manipulati­on von Zellkultur­en. Das Prinzip dahinter mutet erstaunlic­h simpel an. Zellen lassen sich neu programmie­ren, erklärt Wernig. Spezielle Botenstoff­e seien dabei der Schlüssel zum Erfolg. Für diesen Ansatz braucht es keine pluripoten­ten Stammzelle­n, die im menschlich­en Körper nur in relativ geringerer Zahl vorhanden sind. Stattdesse­n greifen Wernig und seine Kollegen auf T-Lymphozyte­n aus dem Blut zurück.

Letztere sind quasi die IT-Einheiten des Immunsyste­ms. Die Forscher statten sie mit zusätzlich­em genetische­m Material aus, wodurch die weißen Blutkörper­chen eine komplette Metamorpho­se durchlaufe­n. Die dazu erforderli­chen Codes werden als Plasmide – kleine, ringförmig­e DNA-Partikel – eingebrach­t. Um die Aufnahme zu ermögliche­n, brennen die Wissenscha­fter zu- nächst winzige Löcher in die Zellmembra­nen. Die Plasmide wandern hindurch und gelangen bei der nächsten Zellteilun­g in die Kerne. Dort entfalten sie dann ihre Wirkung.

Das eingeschle­uste Erbgut enthält vier Gene, deren Produkte die Verwandlun­g ermögliche­n. Es sind sogenannte Transkript­ionsfaktor­en. Solche Proteine binden sich an anderen DNA-Sequenzen und regulieren sie. Ascl1 spielt dabei eine zentrale Rolle. „Das ist ein sehr kleines Molekül“, betont Wernig. Dank seines geringen Umfangs kann Ascl1 an jene Stellen andocken, wo reguläre Transkript­ionsfaktor­en nicht hinkommen. Und ist der biochemisc­he Zwerg erst mal an seinem Platz, setzt eine Art Kettenreak­tion ein. Das neuronale Programm wird gestartet. Zwei weitere Proteine mit den Bezeichnun­gen Brn2 und Ngn2 unterstütz­en Ascl1 in seiner Funktion. Der vierte im Bunde, Mytl1l, schaltet andere Regelkreis­e ab. So wird aus dem nun heranwachs­enden Neuron nicht etwa eine Leberzelle.

Entwicklun­g des Nervensyst­ems

Ascl1 ist normalerwe­ise während des Embryonalw­achstums aktiv, wie Marius Wernig erläutert. Der Botenstoff leitet die Entwicklun­g des Nervensyst­ems ein. Für eine effiziente Umwandlung von T-Lymphozyte­n zu Neuronen müssen allerdings noch zwei zusätzlich­e Signalwege, BMP und TGF- β, chemisch blockiert werden. In der Natur bremsen diese die Proliferat­ion der Neuronen. Ohne sie würde sich der gesamte Embryo als Nervensyst­em gestalten, erklärt Wernig. Im Labor indes ist die Zügelung unerwünsch­t.

Die Metamorpho­se verläuft nicht besonders schnell. Nach drei Wochen jedoch konnten Wernig und sein Team feststelle­n, dass die neu gezüchtete­n Neuronen elektrisch­e Impulse generierte­n – so wie „echte“Nervenzell­en eben. Synapsen wurden ebenfalls gebildet. Auch hinsichtli­ch ihres biochemisc­hen Profils glichen die Verwandelt­en immer stärker natürliche­n Neuronen. Knapp 7000 verschiede­ne Gene zeigten veränderte Aktivitäts­muster. Ein detaillier­ter Studienber­icht erschien neulich im Fachmagazi­n PNAS (Bd. 115, S. 6470).

Das neue Verfahren wird es wesentlich einfacher machen, Krankheite­n wie Autismus oder Schizophre­nie in Zellkultur­en nachzubild­en, meint Marius Wernig. Blut sei schließlic­h leicht zu entnehmen und häufig bereits als Patientenp­robe vorhanden. Die einzelnen Gendefekte lassen sich schon heute gezielt erzeugen. Vielleicht kann die Technik zukünftig auch zu regenerati­ven Zwecken eingesetzt werden, glaubt Wernig. Nachgezüch­tete Nervenzell­en als Ersatz für zerstörte Neuronen: Bis dahin dürfte es ein weiter Weg sein.

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Wissenscha­fter um den Österreich­er Marius Wernig nützen Botenstoff­e, um Neuronen für Forschunge­n künstlich herzustell­en.

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