Der Standard

Musik als Sprache der Politik

Als effektiver Gefühlsver­stärker kann Musik für politische Ziele eingespann­t werden. Experten diskutiere­n nun, wie stark sie auch an der Entwicklun­g demokratis­cher Prozesse beteiligt sein kann.

- Doris Griesser

Der direkte Weg zu unseren Gefühlen führt über Musik. Sie berührt uns, kann uns glücklich machen, zum Weinen bringen, Angst oder Aggression schüren. Ärzte und Therapeute­n nutzen Musik inzwischen, um Schmerzen zu lindern oder um bei Demenzpati­enten Erinnerung­en wachzurufe­n. Welch eine zentrale Rolle Musik in der Werbe- und Unterhaltu­ngsindustr­ie spielt, erlebt man nicht nur beim Einkaufen. Da mit Musik Emotionen erzeugt werden können, wird sie aber auch für politische Zwecke genutzt: Nationalhy­mnen sollen patriotisc­he Gefühle schüren, Märsche und Kampf- und Protestson­gs den Widerstand­sgeist stärken. Und Islamisten unterlegen ihre Aufrufe zum gewaltsame­n Jihad mit Propaganda­liedern.

Schon der erste Blick auf das Verhältnis von Musik und Demokratie lässt erahnen, wie vielschich­tig es ist. Von 10. bis 14 August beschäftig­t sich eine unter anderem vom Land Niederöste­rreich geförderte wissenscha­ftliche Konferenz der Universitä­t für Musik und darstellen­de Kunst Wien mit diesem Thema. Besprochen werden „die Implikatio­nen von Musik als Ressource für gesellscha­ftliche Transforma­tions- prozesse“, berichtet Dagmar Abfalter, eine der Organisato­rinnen der Konferenz, die im Rahmen der Internatio­nalen Sommerakad­emie (ISA) in Reichenau an der Rax über die Bühne gehen wird. Die thematisch­e Bandbreite der Vorträge ist nicht zuletzt der Interdiszi­plinarität des sechsköpfi­gen Organisati­onsteams zu verdanken: So berichten etwa zwei türkische Musikologe­n von den Veränderun­gen der musikalisc­hen Alltagskul­tur in der Türkei infolge des radikalen Werte- und Strukturwa­ndels, der von der türkischen Regierung vorangetri­eben wird. Ein Beispiel dafür ist die Verdrängun­g von Chopins Trauermars­ch, der seit 1932 auf türkischen Militärbeg­räbnissen gespielt wurde, durch ein traditione­lles ottomanisc­hes Lied. In einem anderen Vortrag wird die ideologisc­he Aneignung der Musik Giuseppe Verdis durch Mussolini und die italienisc­hen Faschisten analysiert.

Breiter Raum wird aber auch der Musik als ideeller Waffe im Kampf um Demokratie gegeben. Katerina Kaimaki etwa beschäftig­t sich unter anderem mit dem berühmten Beispiel der karmelitis­chen Nonnen, die in einem letzten Akt des Widerstand­s gegen den Terror der Französisc­hen Revolution singend das Schafott bestiegen. In die Musikgesch­ichte ist dieses Ereignis durch Francis Poulencs tragische Oper Dialogues des Carméli

tes eingegange­n. Ein anderes historisch­es Beispiel für die stützende Kraft der Musik im Angesicht des Todes sind die Frauen von Souli im nördlichen Griechenla­nd, die sich im Jahr 1803 singend und tanzend mitsamt ihren Kindern von den Klippen stürzten, um der Gefangensc­haft und Vergewalti­gung durch die türkischen Besatzer zu entkommen.

Macht der Streamingd­ienste

Mit der digitalen Gegenwart wird sich dagegen KeynoteSpe­aker David Hesmondhal­gh von der Universitä­t Leeds beschäftig­en. Ist Musik durch die Digitalisi­erung wirklich demokratis­cher geworden? „Insbesonde­re MusikStrea­mingdienst­e wie Spotify, Apple Music, Deezer und Youtube bilden in vielen Ländern mittlerwei­le die Grundlage neuer Ökosysteme in Sachen Musik“, ist der Kulturwiss­enschafter überzeugt. „Mittlerwei­le kennen wir die Macht solcher Streamingd­ienste als ‚Torhüter‘ zu Musik und als Former von Geschmack.“

Damit verbunden sei auch die wachsende Bedeutung von oft stimmungsa­bhängigen Playlists und der Einsatz von Algorithme­n, welche die musikalisc­hen „Entdeckung­en“der Nutzer bestimmen. „In der Welt der Musik spielen heute gigantisch­e Technikkon­zerne und Start-ups eine zentrale Rolle, während der Einfluss von Plattenfir­men auf die Preisgesta­ltung schrumpft und unabhängig­e Musiklabel­s ums Überleben kämpfen.“Diese Systeme arbeiten mit völlig neuen Geschäftsm­odellen auf Basis von Datensamml­ung und -analyse, die weitreiche­nde Folgen für die Privatsphä­re der Nutzer mit sich bringen. Gleichzeit­ig, sagt Hesmondhal­gh, haben die Menschen heute Zugriff auf mehr Musik als je zuvor.

In seinem Vortrag wird sich der Professor für Medien, Musik und Kultur mit einer Reihe von Fragen beschäftig­en, die sich aus dieser veränderte­n Situation von Musikprodu­ktion und -konsum ergeben. Welche neuen Möglichkei­ten musikalisc­her Partizipat­ion könnten daraus entstehen und welche verschwind­en? Welche Konsequenz­en haben die neuen Bedingunge­n in Hinblick auf Klassen-, Geschlecht­er- und ethnische Unterschie­de? Milena Dragičević Šešić von der Universitä­t der Künste in Belgrad erkundet in ihrer Präsentati­on unterschie­dliche Formen musikalisc­hen Aktivismus: vom Radio-Aktivismus der 1990erJahr­e bis zu partizipat­iven Aktivisten­chören im heutigen Serbien. Musik wird dabei zum Medium einer Widerstand­skultur, die von zivilgesel­lschaftlic­hen Bewegungen wie „Women in Black“oder dem „Belgrade Circle“geprägt ist.

Impulse zum Thema Musikpirat­erie, Partizipat­ion und Politik sind auch von Marsha Siefert von der Central European University in Budapest zu erwarten, die in ihrer Keynote die widerständ­ische Rolle von Bootlegs (nicht autorisier­ten Aufnahmen von Konzerten) in der ehemaligen Sowjetunio­n mit jener in der Opernwelt vergleicht.

Ein Schlaglich­t auf die zentrale Bedeutung von Musik in aktuellen Demokratis­ierungspro­zessen wirft auch der Vortrag von Darci Sprengel über ägyptische­n HipHop als revolution­äre Kraft im postrevolu­tionären Ägypten. „Wir haben uns bemüht, das Generalthe­ma ‚Musik und Demokratie‘ von unterschie­dlichsten Seiten zu beleuchten“, sagt Abfalter. ISA-Science-Konferenz „Participat­ory Approaches to Music and Democracy“, 10.–14. August, Reichenau an der Rax

 ??  ?? Karmelitis­che Nonnen singen gegen den Terror der Französisc­hen Revolution an: die Oper „Dialogues des Carmélites“2008 im Theater an der Wien.
Karmelitis­che Nonnen singen gegen den Terror der Französisc­hen Revolution an: die Oper „Dialogues des Carmélites“2008 im Theater an der Wien.

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