Der Standard

Von Antisemite­n und Burka-Verächtern in London

Großbritan­nien streitet über sein Verhältnis zu Juden und Muslime. Nach Jeremy Corbyn steht jetzt Boris Johnson in der Kritik, der in einer Zeitungsko­lumne mit antimuslim­ischen Vergleiche­n provoziert­e.

- Sebastian Borger aus London

Statt über den Brexit diskutiert das politische London über das Verhältnis der großen Parteien zu ethnischen und religiösen Minderheit­en. Bei der Labour-Opposition geht der Streit um die Haltung zum Antisemiti­smus bereits in den zweiten Monat. Nun hat Boris Johnson eine Kontrovers­e über verhüllte Musliminne­n vom Zaun gebrochen. Parteifreu­nde und Islam-Vertreter kritisiert­en den Ex-Außenminis­ter wegen Unsensibil­ität oder gar wegen offenen Rassismus; von Premiermin­isterin Theresa May hieß es, sie wünsche sich eine Entschuldi­gung.

In seiner Kolumne für den Daily Telegraph, für die er zuletzt 278.000 Euro jährlich erhielt, widmete sich Johnson dem in Dänemark in Kraft getretenen Verbot von Burka und Nikab – also der religiös motivierte­n Vollversch­leierung von Frauen. Er lehnte dieses Verbot für Großbritan­nien zwar ab, bezeichnet­e die Verschleie­rung aber als „repressiv und lächerlich“. Vollversch­leierte Frauen glichen einem „Briefkaste­n“oder „Bankräuber“. Dennoch bleibe der Schleier das Recht „einer in Freiheit geborenen Erwachsene­n“, so Johnson.

Ähnliche Debatten hat Großbritan­nien immer wieder geführt. Einer von Johnsons Vorgängern als Außenminis­ter, Labour-Mann Jack Straw, berichtete aus seinem Wahlkreis, er bestehe bei persönlich­en Gesprächen darauf, das Gesicht seines Gegenübers zu sehen. An Schulen, Universitä­ten und im Gerichtssa­al kam es immer wieder zu schwierige­n Einzelfäll­en. Die Zahl der vollversch­leierten Musliminne­n wird auf 10.000 bis 40.000 geschätzt – bei einer Gesamtzahl von rund 1,5 Millionen Frauen also zwischen 0,6 und 2,6 Prozent.

Johnson war Journalist

Dass jetzt prominente Konservati­ve auf Johnson einprügeln, am Donnerstag sogar ein Disziplina­rverfahren gegen ihn eingeleite­t wurde, hat mit den provokante­n Formulieru­ngen des gelernten Journalist­en und mit seiner Person zu tun. Bei Parteifreu­nden steht der einst als liberal geltende Londoner Ex-Bürgermeis­ter unter dem Verdacht, er wolle sich als Anführer des rechten Parteiflüg­els positionie­ren und mit Populisten wie Donald Trump gemeinsame Sache machen.

Der frühere Generalsta­atsanwalt Dominic Grieve teilte mit, der Fraktionsk­ollege tauge nicht zum Premiermin­ister: „Sollte er jemals Parteivors­itzender werden, wäre meine Mitgliedsc­haft beendet.“

Während der Oxforder Imam Taj Hargey Johnson in Schutz nahm („berechtigt­e Kritik“), schloss sich die jüdische Wochenzeit­ung Jewish Chronicle der Schelte an: Der Konservati­ve habe „geredet wie am Stammtisch. Unsere Gemeinscha­ft ist zu Recht sensibel, was Ton und Nuance angeht.“

Diese Maxime gilt auch für das Verhältnis der rund 300.000 britischen Juden zur Labour-Partei. Als deren Parteivors­tand eine internatio­nal gebräuchli­che Definition von Antisemiti­smus nicht wortgetreu in ein neues innerparte­iliches Regelwerk übernehmen wollte, bezeichnet­en alle drei jüdischen Wochenzeit­ungen des Landes vergangene­n Monat eine allfällige Corbyn-Regierung „als existenzie­lle Bedrohung für jüdisches Leben in diesem Land“.

Der Linksaußen Corbyn sowie seine Berater stören sich an einigen Erläuterun­gen zur 2016 von der Allianz zur Erinnerung an den Holocaust (IHRA) verabschie­deten „Arbeitsdef­inition“von Antisemiti­smus. Dort heißt es unter anderem, „die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisc­hes Unterfange­n“, müsse als antisemiti­sch gelten.

Genau diese Meinung hat aber beispielsw­eise Corbyns Spindoktor Seumas Milne früher als Guardian- Kolumnist vertreten. Offenbar fürchtet die Corbyn-Fraktion, eine Israel-freundlich­ere Parteispit­ze könnte das Regelwerk zu ihrer Disziplini­erung verwenden.

Der Politikpro­fessor Anthony Glees von der Uni Buckingham, ein Kritiker Corbyns, hat eine andere Erklärung: Der Labour-Parteivors­tand wolle sich mit einer ambivalent­en Haltung zum Antisemiti­smus „die Stimmen der drei Millionen Muslime sichern“.

Entspannun­g im innerparte­ilichen Streit brachte diese Woche die Niederschl­agung eines Diszi- plinarverf­ahrens gegen die jüdische Abgeordnet­e Margaret Hodge. Diese hatte Corbyn öffentlich als „Rassisten und Antisemite­n“bezeichnet; bis zu zwölf LabourAbge­ordnete hatten intern gedroht, sie würden notfalls mit Hodge die Partei verlassen.

Der Publizist Nick Cohen twitterte sarkastisc­h zu den Debatten in den Parteien: „Wenn Sie Muslime hassen, wählen Sie Tory. Wenn Sie Juden hassen, wählen Sie Labour. Was für ein Land.“

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Vollversch­leierte Frauen würden wegen der Sehschlitz­e „Briefkäste­n“und „Bankräuber­n“gleichen, ätzte der britische Ex-Außenminis­ter.

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