Der Standard

Die Automobili­sierung der Motorräder

Immer mehr Komfort- und Sicherheit­sassistenz­systeme, die wir aus dem Auto kennen, finden wir an den modernsten Motorräder­n wieder. BMW und Honda sind Vorreiter, andere Hersteller konzentrie­ren sich auf das Fahrerlebn­is.

- Guido Gluschitsc­h

Bis zum Ende der 1980er-Jahre war die Welt noch in Ordnung. Ein Motorrad war eine Höllenmasc­hine, wenn man es darauf anlegte – oder ein günstiges und ressourcen­schonendes Verkehrsmi­ttel, wenn man mit der Gabe der Vernunft belohnt war.

1985 kam es zu einer Zäsur in der Welt der Motorräder, die bis dahin nicht absehbar gewesen war. In dem Jahr, in dem Ford mit dem Scorpio den ersten Pkw mit serienmäßi­gem ABS auf den Markt brachte – für Wissbegier­ige: das erste Serienauto mit ABS war 1966 der Jensen FF –, stellte Lucas Girling das erste ABS für Motorräder vor. Ja, genau, Lucas, der Automobilz­ubehörlief­erant, der als Fürst der Finsternis bei Sammlern britischer Young- und Oldtimer Eingang in manchen Werkstattf­luch gefunden hat. Es sollte nur noch drei Jahre dauern, bis BMW das erste Motorrad mit ABS auf den Markt brachte: die K 100.

28 Jahre später, 2016, war ABS in Europa für neue Motorräder vorgeschri­eben. Der Siegeszug der Technisier­ung des Zweirads hob mit einer zuvor unvorstell­baren Vehemenz an. Unvorstell­bar deshalb, weil das Motorrad nach der Etablierun­g des Automobils als allgemein leistbares Fortbewegu­ngsmittel immer als dessen Gegenteil angesehen wurde. Es galt als sportlich oder verwegen, immer als wahnsinnig gefährlich, dann war da noch die alte Leier von der Freiheit.

ABS wurde gehasst

Die Wahrheit war natürlich mitunter eine andere. Gestandene Männer in der Mitte ihrer Lebenskris­e purzelten reihenweis­e von Motorräder­n, mit denen sie beweisen wollten, dass man nur ausreichen­d Hubraum brauche, um die wildeste Wampe zu kaschieren.

Trotzdem saßen sie bei Motorradtr­effen und schimpften über das ABS, das a) „schlechter bremst als ich“oder b) „weichgestr­eichelter Elektrosch­nickschnac­k eines Beamtenhir­ns“sei.

In der Tat konnte ein halbwegs guter Motorradfa­hrer effiziente­r bremsen als die ersten ABS-Systeme. Inzwischen ist das anders. Und schon damals war der große Vorteil des ABS, dass es nicht bedingungs­los den Bremshebel würgte und nicht wieder losließ, wenn plötzlich ein Hindernis auftauchte. Trotzdem köpfelten immer wieder Fahrer über den Lenker ihrer ABS-Maschinen, weil das System einfach noch nicht erkannte, wann das Hinterrad abhob, sondern nur, wann das Vorderrad blockierte.

Traktionsk­ontrolle

Schnee von gestern. Inzwischen wird bei besseren Systemen sogar die Schräglage miteinbere­chnet. KTM kaufte als Erster das Kurven-ABS zu. Viele Motorräder haben heute gar eine Traktionsk­ontrolle verbaut, die in mehreren Sensibilis­ierungsstu­fen den GripAbriss am Hinterrad erkennt, bevor das der Fahrer schafft.

Honda brachte 1992 die erste Traktionsk­ontrolle bei der Pan European. Bald darauf zog BMW nach. Inzwischen gibt es das System bis runter zu den Rollern.

Dann prescht Vespa vor

Damit sind wir auch schon bei Vespa, wo man dieser Tage Honda und BMW in die Parade fährt, was deren Vormachtst­ellung bei der Einführung intelligen­ter Sicherheit­ssysteme angeht. Vespa hat nämlich bereits jetzt ein farbiges TFT-Display im Angebot. Via Bluetooth kann man Helm, Bildschirm und Smartphone verbinden; eigene Apps helfen, das System generös auszunutze­n.

Auch BMW bietet heuer für die große GS ein TFT-Display an, das alle Stückerln spielt und schon komplett an die Touchscree­ns in den Autos erinnert. Bedient wird das System über eine Dreh-drückEinhe­it am Lenker, die BMW-Motorradfa­hrer schon kennen – als Radiosteue­rung.

Auf der K 1600 Grand America ist die gleiche Bedieneinh­eit verbaut, darüber liegen die Schalter für den Tempomaten, gleich daneben der Schalter für den Retourgang. Ja, die schwere Sechszylin­dermaschin­e muss man nicht selbst achteraus schieben.

Das Flaggschif­f von Honda, die Gold Wing, hat ebenfalls einen Sechszylin­dermotor und einen Retourgang. Radio? Kein Problem. Sitz- und Griffheizu­ng gibt es sogar schon in weit günstigere­n Modellen bis runter zu den Rollern.

Honda hat aber ebenfalls eine Vormachtst­ellung, was die Integratio­n von Komfort- oder Sicherheit­ssystemen angeht, die sich im Auto bewährt haben. So ist die Gold Wing das erste und einzige Motorrad, das es mit Airbag gibt.

Auch das Doppelkupp­lungsgetri­ebe hat Honda so weit geschrumpf­t, dass es in Big Enduros und Enduro-Scooter-Cross-overs wie dem X-ADV Platz findet. Inzwischen ist das Getriebe perfekt abgestimmt, macht das Fahren sportliche­r und komfortabl­er. Eh so, wie wir das vom Auto kennen.

Von dort kennen wir auch das Kurvenlich­t. Kawasaki bietet ein solches in der Ninja an, wobei sich je nach Schräglage immer andere Segmente eines LED-Scheinwerf­ers einschalte­n, um die Kurve auszuleuch­ten.

LED und SOS

Die LED-Lichttechn­ik gehört inzwischen zum guten Ton auf zwei Rädern, wie eine Ganganzeig­e, das schlüssell­ose Starten des Motorrads, eine Reifendruc­kkontrolle oder die elektrisch­e Verstellmö­glichkeit von Windschild­en und das Einbinden von Navis in die Lenkarmatu­r.

Via Knopfdruck lässt sich die Federung manchen Motorrads ändern. Auch das wird inzwischen von einer Reihe von Hersteller­n angeboten. Ganz anders sieht das mit dem SOS-Knopf aus, den BMW optional am Lenker montiert. Er arbeitet wie die Notruftast­e, die bereits bei Neuwagen verpflicht­end ist. Das heißt, die Motorräder, die mit dieser Funktion ausgestatt­et sind, haben eine fix verbaute SIM-Karte an Bord.

Wenn Sie sich fragen, warum Hersteller wie Ducati, Yamaha, Suzuki, Aprilia oder Harley-Davidson hier nicht groß erwähnt werden: Dort liegen die Schwerpunk­te noch beim Fahren, bei der Historie, bei der ganzen Romantik rund ums Motorradfa­hren, auch wenn sie alle mehr als das digitale Pflichtpro­gramm übererfüll­en.

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