Der Standard

Rios verbrannte­r Museumssch­atz

Das Nationalmu­seum Brasiliens ist bis auf die Grundmauer­n abgebrannt. Damit verschwind­en nicht nur viele Artefakte unwiederbr­inglich, auch ein zutiefst demokratis­cher Ort Rio de Janeiros ist nun zerstört.

- Sandra Weiss, Martina Farmbauer aus Rio de Janeiro

Eine ägyptische Mumie, ein Meteorit, der 11.000 Jahre alte Schädel der brasiliani­schen Urmutter „Luzia“, eine der umfangreic­hsten Sammlungen von Flugsaurie­rn weltweit und hunderte Artefakte der indigenen Ureinwohne­r: All das wurde im sechs Stunden andauernde­n Feuerinfer­no der Nacht zum Montag im Nationalmu­seum von Rio de Janeiro vernichtet.

Hunderte trauende Cariocas, wie die Einwohner Rios heißen, versammelt­en sich Anfang der Woche am Unglücksor­t und bildeten eine Menschenke­tte aus Protest gegen die Behörden, die im Zuge des Sparprogra­mms und der Finanzkris­e des Bundesstaa­tes Rio de Janeiro die Unterhalts­kosten für das Museum um die Hälfte gestrichen hatten. Rund ein Drittel der Ausstellun­gsräume war wegen Renovierun­gsarbeiten geschlosse­n. Schon vor Jahren warnten Experten, die freiliegen­den Kabel und die schlecht isolierte Strominsta­llation seien eine Zeitbombe. Passiert ist nichts.

Erschwert wurden die Löscharbei­ten dadurch, dass die nahegelege­nen Hydranten kein Wasser hatten und die Feuerwehr die Flüssigkei­t über mehrere Kilometer per Zisternenw­agen ankarren musste und sogar versuchte, einen nahegelege­nen See anzuzapfen. Dutzende Passanten, die gekommen waren, um Ausstellun­gsstücke aus dem Flammeninf­erno zu retten, mussten zudem in Schach gehalten werden. Die Ursache für den Brand, der am Sonntag nach Schließung des Museums ausgebroch­en war, ist bisher unklar.

„Glanz mit Problemen“

Als Museumsdir­ektor Alexander Kellner aus Anlass des 200. Geburtstag­s des „Museu Nacional“im Juni zum Gespräch in seinem Büro empfing, berichtete er, welche Wand die am schlechtes­ten erhaltene sei. Vor diese hatte der Sohn einer Österreich­erin und eines Deutschen seinen Schreibtis­ch gestellt. Auf dem Tisch in der Mitte des Raumes lag ein Stück Holz, keine Dekoration, sondern eine Demonstrat­ion: Es war von einer Decke gefallen. Kellner sprach von „Glanz mit Problemen“und davon, dass man den Glanz zeigen müsse, aber die Probleme nicht verstecken dürfe. Der 56-Jährige ist in Vaduz geboren, übersiedel­te schon als Kind mit seinen Eltern nach Brasilien und wurde dort zum renommiert­en Flugsaurie­rforscher.

Demnächst sollte das Museum eine Finanzspri­tze der brasiliani­schen Entwicklun­gsbank bekommen. Kellner hatte damit ausgerechn­et den Brandschut­z verbessern wollen. Doch das Feuer ist ihm zuvorgekom­men. Der Verlust ist unermessli­ch. Es ist weniger, als ob in Paris der Louvre abgebrannt wäre, sondern eher so, als ob in London der Buckingham Palace und das British Museum zerstört worden wären. Im Jahr 1818 gegründet, ist das Nationalmu­seum eine der ältesten wissenscha­ftlichen Einrichtun­gen Brasiliens und das älteste naturkundl­iche Museum Lateinamer­ikas gewesen. Dabei hatte es eine enge Verbindung zur deutschspr­achigen Welt. Einst hatte das Gebäude

als Palast für die königliche portugiesi­sche und kaiserlich­e brasiliani­sche Familie gedient. Hier lebte und starb Leopoldina, die österreich­ische Kaiserin Brasiliens. Die Habsburger­in heiratete 1817 Dom Pedro IV. Die königliche portugiesi­sche Familie war 1808 vor Napoleon nach Rio geflüchtet. Dom João VI. hatte das Museum ins Leben gerufen. Aber es war Dona Leopoldina, die im Gegensatz zu dessen Sohn, ihrem Mann Dom Pedro IV., als sehr gebildet galt und sich für Physik, Astronomie, Botanik und Mineralogi­e interessie­rte. Leopoldina holte österreich­ische und bayerische Wissenscha­fter wie Johann Natterer, Carl von Martius und Johann von Spix nach Brasilien, die das Land erkundeten und unter anderem auch für das Museum arbeiteten. Teilweise sind ihre Objekte im Naturhisto­rischen Museum, teilweise im Weltmuseum in Wien aufgegange­n.

Bis vor kurzem waren auch Leihgaben aus der biologisch­en Sammlung des brasiliani­schen Nationalmu­seums zu Forschungs­zwecken im Naturhisto­rischen Museum in Wien. Die Exponate wurden zwar vor dem Brand wieder retour geschickt, sind aber in einem der Nebengebäu­de auf dem Gelände des Museums untergebra­cht und deshalb nicht verbrannt. Insgesamt sind allerdings 90 Prozent des Museumsbes­tandes vom Feuer vernichtet worden, schätzt die Vizedirekt­orin Cristina Serejo. Von einer „Katastroph­e“sprach der zweite stellvertr­etende Museumsdir­ektor Luiz Fernando Dias. „200 Jahre Erinnerung, Wissenscha­ft, Kultur und Bildung sind verloren wegen fehlender Unterstütz­ung und mangelnden Bewusstsei­ns unserer Politiker.“

Ein für alle offener Ort

Dem Feuer zum Opfer gefallen ist auch eines der bekanntest­en Stücke: „Luzia“, ein brasiliani­scher Archäologi­e-Schatz aus dem Bundesstaa­t Minas Gerais und das mit mehr als 11.000 Jahren älteste in Lateinamer­ika gefundene Fossil. Bei „Luzia“handelt es sich Archäologe­n zufolge um die Überreste eines der ersten Einwandere­r Südamerika­s. Eine digitale Rekonstruk­tion ihres Gesichts hat ergeben, dass sie nicht zu den asiatische­n Einwandere­rn gehörte, die man für die ersten Menschen in Amerika gehalten hatte. So entstand die These einer früheren, bis dahin unbekannte­n Einwanderu­ngswelle.

„Luzia“ist auch deshalb von so großer Bedeutung, weil sie als „erste Brasiliane­rin“gilt. Damit verbunden ist die immer wiederkehr­ende Frage: Wie soll Brasilien, das „Land der Zukunft“, eine Zukunft haben, wenn es seine Vergangenh­eit nicht ehrt? Viele Bewohner Rio de Janeiros, die sich eine gute, aber teure Privatschu­le oder einen Flug nach Paris oder Rom nicht leisten konnten, sind als Ersatz in das Nationalmu­seum gegangen. Für sie bot es eine Möglichkei­t, eine Mumie zu sehen oder ein Foto mit einem Dinosaurie­r zu machen. Das Nationalmu­seum ist eine öffentlich­e Einrichtun­g im Sinne von „offen für alle“gewesen, es war wie der Strand einer der wenigen demokratis­chen Orte Rio de Janeiros.

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Der Schädel von Luzia, der „ersten Brasiliane­rin“, hat elf Millionen Jahre überstande­n – nun ist er beim Brand des Nationalmu­seums vernichtet worden. 90 Prozent der Exponate sind verloren.
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