Der Standard

Die Bahn machte die Menschen kleiner

Die Errichtung von Verkehrsne­tzen im 19. Jahrhunder­t brachte nicht nur Wirtschaft­swachstum und höhere Einkommen. Mit der Mobilität kamen auch Krankheite­n und neue soziale Probleme in ländliche Regionen – mit bemerkensw­erten Folgen, wie eine Studie zeigt.

- David Rennert

Der historisch­en und wirtschaft­swissensch­aftlichen Forschung gibt das Phänomen seit Jahrzehnte­n Rätsel auf: Im 19. Jahrhunder­t kam es in fast allen aufstreben­den Industriel­ändern zu einer Abnahme der durchschni­ttlichen Körpergröß­e und der Lebenserwa­rtung, obwohl die Wirtschaft wuchs und das Einkommen pro Kopf stieg. Dieses sogenannte Einkommen-Körpergröß­e-Paradoxon, im US-amerikanis­chen Sprachraum als „Antebellum Puzzle“bekannt, hat schon für zahlreiche Erklärungs­versuche gesorgt. Belege sind allerdings schwer zu erbringen.

Nun legt Ariell Zimran von der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee, eine Untersuchu­ng vor, die auf einer vergleichs­weise stabilen Grundlage steht. Der Ökonom analysiert­e die Jahrzehnte vor dem Amerikanis­chen Bürgerkrie­g, in denen sich der paradoxe Effekt besonders deutlich ausdrückte: Im Zeitraum von 1820 und 1860 wuchs der Wohlstand in den USA deutlich – doch die Menschen wurden kränker. Die Hauptursac­he, die Zimran dafür identifizi­ert: der Ausbau der Verkehrsin­frastruktu­r.

Militärisc­her Datenschat­z

Die Annahme, dass sich die steigende Mobilität zunächst negativ auf die Gesundheit ausgewirkt haben könnte, ist nicht neu. So könnten etwa Infektions­krankheite­n durch bessere Verkehrsve­rbindungen schneller und weiter verschlepp­t worden sein. Zudem nahm die soziale Ungleichhe­it im Zuge der rasanten Urbanisier­ung zu, gleichzeit­ig stiegen die Preise für proteinrei­che Nahrung zu dieser Zeit. Zimran untermauer­t nun aber erstmals anhand umfangreic­her empirische­r Daten, dass der verbessert­e Zugang zu Märkten durch Eisenbahn und Binnenschi­fffahrt in Zusammenha­ng mit dem Rückgang der Körpergröß­e der US-Bevölkerun­g im 19. Jahrhunder­t stehen dürfte: In sein Modell fließen Daten von 25.567 Rekruten der Union Army ein, die zwischen 1820 und 1850 in ländlichen Regionen im Nordosten und im Mittleren Westen der USA geboren wurden. Der Ökonom kombiniert­e die Armeeverze­ichnisse, die Größe, Alter, Geburtsort und Gesundheit­szustand eines jeden Soldaten umfassten, mit einer akribische­n Rekonstruk­tion der Infrastruk­tur ihrer Herkunftsr­egionen in den Jahrzehnte­n vor dem Bürgerkrie­g.

Einen Zentimeter kleiner

Im nächsten Schritt kartierte Zimran alle neuen Wasserstra­ßen und Eisenbahns­trecken und den Wandel der ökonomisch­en Verbindung­en der ländlichen Regionen mit Städten und Häfen. Zudem wurden auch die landwirtsc­haftliche Produktion­sleistung sowie die Bevölkerun­gsentwickl­ung der jeweiligen Gebiete in Zimrans Modell berücksich­tigt. Die Auswertung ergab einen signifikan­ten Zusammenha­ng: je besser die Verkehrsan­bindung der Herkunftso­rte der Soldaten, desto geringer ihre Körpergröß­e – um bis zu einen Zentimeter.

Das stütze die Hypothese, dass die Menschen durch die „Transportr­evolution“mehr Krankheite­n und mehr Luft- und Wasservers­chmutzung ausgesetzt waren, während sich der Nahrungsmi­ttelzugang für Ärmere verschlech­terte, schreibt Zimran in seiner Studie für die Nationale Agentur für Wirtschaft­sforschung. Für ihn sind die Ergebnisse eine Warnung für unser Zeitalter, dass Wirtschaft­swachstum nicht zwangsläuf­ig den Lebensstan­dard der Bevölkerun­g hebt. „Der Ausbau von Infrastruk­tur bringt klare wirtschaft­liche Vorteile, kann aber auch unbeabsich­tigte negative Folgen für das Wohlergehe­n der Menschen haben.“

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Einweihung einer Eisenbahns­trecke in den USA. Die Verkehrsre­volution hatte auch ungeahnte Effekte.

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