Der Standard

Ein historisch­er Blick auf die Krise

- Aloysius Widmann

Historiker brauchen ein bisschen länger, um ihre Gedanken zu einschneid­enden Ereignisse­n zu verfassen. Nicht, weil sie langsamer sind. Sondern, weil sie einen möglichst großen Kontext berücksich­tigen. Zehn Jahre nach der Lehman-Pleite ist im Universitä­tsverlag der britischen Traditions­universitä­t Oxford ein Sammelband erschienen, der sich mit der Rolle, öffentlich­er Wahrnehmun­g und Verantwort­ung von Finanzelit­en auseinande­rsetzt.

Der erste von neun Beiträgen – alle verfasst in wissenscha­ftlichem, aber gut verständli­chem Englisch – von den Herausgebe­rn Youssef Cassis und Giuseppe Telesca wählt die jüngste Bankenund Wirtschaft­skrise als Aufhänger, um den öffentlich­en Diskurs über Finanzelit­en in Krisenzeit­en zu beleuchten. Die Öffentlich­keit habe nach Lehman ein schlechter­es Bild von Bankern gehabt als nach der großen Depression der 1930er-Jahre. Das liege auch daran, dass vor rund hundert Jahren noch Privatbank­iers die Branche geprägt haben. Je stärker das Bankgeschä­ft von Managern verantwort­et würde, umso mehr unterstell­e man diesen unlautere Motive – es sei ja nicht ihre „eigene“Bank, für die sie Risiken eingehen.

T. T. Arvind, Joanna Gray und Sarah Wilson wählen einen anderen Blickwinke­l. Man dürfe nicht vergessen, dass die komplexen Finanzkon- strukte, die zum Kollaps geführt haben, legal abgesicher­t waren und sind. Man müsse Regulatore­n, Investoren, Richter und Anwälte auch zur Finanzelit­e zählen.

Krisen führen zu verstärkte­r Regulierun­g. Das belegen Cassis und Telesca auch für die Zeit nach Lehman. Regulierun­g führt zu Innovation­sdruck. Neue Finanzprod­ukte, Services und Geschäftsm­odelle stechen oft in gesetzlich nicht abgedeckte Graubereic­he und ziehen wiederum neue Regulierun­g nach sich. Allerdings hegen die Herausgebe­r Zweifel daran, dass sich das Finanzsyst­em im Nachhall der Lehman-Pleite signifikan­t ändern würde.

Regulierun­g passiert auch in nationalen Notenbanke­n. Mikael Wendschlag analysiert 85 Profile von Notenbankc­hefs in zwölf entwickelt­en Ländern und zeigt, dass das Profil von Notenbanke­rn einiges über die Wahrnehmun­g von Bankern aussagt. Als Währungshü­ter werden Personen berufen, die das Vertrauen von Politik und Öffentlich­keit genießen. Seit den Neunzigern besetzen Technokrat­en die Chefetagen. Dass US-Präsident Donald Trump die US-Notenbank jüngst mit einem Juristen besetzt hat, könnte in eine neue Richtung weisen. Youssef Cassis, Giuseppe Telesca, „Financial Elites and European Banking. Historical Perspectiv­es“. € 74,00 / 288 Seiten. OUP Oxford, 2018

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