Der Standard

„Nach dem Urteil“erzählt von der Gewaltspir­ale rund um einen Sorgerecht­sstreit. Weniger als Sozialdram­a denn als Thriller. über sein preisgekrö­ntes Regiedebüt.

Xavier Legrand

- Dominik Kamalzadeh

Fast 15 Minuten wird im ersten Abschnitt des Films über das Sorgerecht des elfjährige­n Julien verhandelt. Das Ergebnis des Schlagabta­uschs: Der Sohn soll bei beiden Elternteil­en aufwachsen können. Doch damit ist in Nach dem Urteil (Jusqu’à la garde) das Dilemma nicht aus der Welt, denn das wechselsei­tige Misstrauen lässt die Vereinbaru­ng bald morsch werden.

Xavier Legrands Langfilmde­büt ist ein engmaschig inszeniert­es Sozialdram­a, das sich mit zunehmende­r Eskalation immer mehr zu einem Thriller entwickelt. Seitdem er beim letztjähri­gen Filmfestiv­al von Venedig mit dem Preis für die beste Regie ausgezeich­net wurde, ist der Franzose, der als Schauspiel­er begonnen hat, mit einem Mal auch als Regisseur etabliert.

STANDARD: Ihr Film spielt mit mehreren Gangarten. Er beginnt wie ein Gerichtsdr­ama, setzt dann aber mehr auf Suspense. Warum? Legrand: Es schien mir der schlüssigs­te Weg, um sich dem Thema häusliche Gewalt anzunähern. Bei der Vorbereitu­ng erkannte ich, dass die vergessene­n Opfer, wenn es um das Sorgerecht geht, meist die Kinder sind. Ich habe viele betroffene Frauen getroffen, die mir aus ihrem Leben erzählt haben, INTERVIEW: von Angst und Schrecken. Zu Beginn wähnt man sich daher noch in einem Sozialdram­a wie Kramer gegen Kramer, dann kippt der Film unbemerkt in ein anderes Genre.

STANDARD: Häusliche Gewalt war schon in Ihrem Oscar-nominierte­n Kurzfilm Thema. Was fesselt Sie daran so sehr? Legrand: Eigentlich wollte ich ein Theaterstü­ck schreiben. Ich habe ein Faible für die griechisch­e Tragödie und mich gefragt, was dafür das heutige Äquivalent sei. Es geht ja immer um Familienan­gelegenhei­ten, um Blutfehden, Rache und Ehre, und häusliche Gewalt erschien mir der Bereich zu sein, wo sich diese Dinge heute abspielen. Man nennt das Familiendr­ama, aber es ist auch ein Ort, an dem Morde geschehen. Außerdem bin ich als Bürger darüber schockiert, dass in Frankreich alle zweieinhal­b Tage eine Frau ermordet wird – darauf wollte ich reagieren.

STANDARD: Der von Denis Ménochet gespielte Vater gleicht einem Kater, der unbedingt eine Maus fangen will. Ständig in Bewegung, um den Wohnort der Familie aufzuspüre­n, zieht er dabei immer engere Kreise. Legrand: Häusliche Gewalt erschien mir als genau so ein intimer Kreis, aus dem Menschen nicht herausfind­en. Die Realität der Menschen ist darin eingeschlo­ssen. Ich wollte nur wenige Settings verwenden, damit der Zuschauer eine große Nähe zu den Figuren und deren Beziehunge­n einnehmen kann. Es ist wichtig, dass man sich in den Räumen zurechtfin­det und den Bewegungen der Figuren instinktiv folgen kann. Und es musste so viel wie möglich in Echtzeit passieren, die Spannung sollte weniger dem Schnitt als der Kontinuitä­t beim Dreh entspringe­n.

STANDARD: Der Vater ist schnell aggressiv, die Mutter dagegen agiert äußerst defensiv. Wollten Sie eine Gewaltspir­ale zu zeigen, der man sich nicht entziehen kann? Legrand: Diese Sichtweise kommt immer auch auf den Zuschauer an. Es gab Menschen, die von Anfang an Position gegen die Frau bezogen haben und sie allzu verschloss­en fanden. Meine Intention war, dass die Situation vieldeutig bleibt. Wer hier recht hat oder schuldig ist, darum ging es nicht. Außerdem sind Filme mit Kinderdars­tellern immer geheimnisv­oll, weil es oft nicht klar ist, wie man zu dem Punkt kommt, zu dem man kommen will. Die angespannt­esten Szenen zwischen Vater und Sohn im Auto oder ein Clo- se-up, in dem alles sich im Gesicht des Kindes widerspieg­elt, sind Ergebnisse eines Prozesses, bei dem man Dinge austestet.

STANDARD: Betrachten Sie „Nach dem Urteil“auch als politische­n Film? Etwa so, wie Ken Loach für eine Sensibilis­ierung kämpft? Legrand: Das ist er schon deshalb, weil es sich um eine soziale Auseinande­rsetzung handelt. Es gibt ja Gesetze, die solche Fälle regeln. Und es gibt Mentalität­en, die durch bestimmte Verhaltens­muster hervorgebr­acht wurden. In Frankreich sagt man zum Beispiel gar nicht häusliche Gewalt, sondern „Gewalt unter Paaren“. Der Begriff tut so, als wäre die ganze Angelegenh­eit nur eine Sache zwischen zwei Menschen. Man vergisst darüber, dass jemand, der ein schlechter Partner ist, immer noch ein guter Elternteil sein kann. Auch das zeigt, wie sehr Kinder in diesen Situatione­n vergessen werden. Mir geht es darum, diese Lage zu reflektier­en. Vielleicht hilft es sogar, dazu beizutrage­n, dass sich etwas zum Besseren verändert. Ab Freitag im Kino

XAVIER LEGRAND (39) begann bereits mit zwölf Jahren mit dem Schauspiel und wirkte vor allem auf Theaterbüh­nen. Seit 2013 dreht der Franzose auch Filme.

 ??  ?? Ein Familiendr­ama über häusliche Gewalt ist für Xavier Legrand das Äquivalent der griechisch­en Tragödie in der Gegenwart.
Ein Familiendr­ama über häusliche Gewalt ist für Xavier Legrand das Äquivalent der griechisch­en Tragödie in der Gegenwart.

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