Der Standard

Schule der Empathiefä­higkeit

Am 9. Oktober startet das Theater der Jugend in die neue Spielzeit: Leiter Thomas Birkmeir und Chefdramat­urg Gerald Maria Bauer über die revolution­äre Kraft von Kindern und die Verantwort­ung des Jugendthea­ters.

- INTERVIEW: Andrea Heinz

Geschichte­n von Kindheitsh­eldinnen, Rabauken und Idolen bringt das Wiener Kinder- und Jugendthea­ter in der anstehende­n Saison auf die Bühne: Hier leben Ronja Räubertoch­ter und Oliver Twist Werte wie Empathie und Selbststän­digkeit im Theater vor. Diese sind auch Thomas Birkmeir und Gerald Maria Bauer wichtig, die beide bereits seit über 15 Jahren für das Theater der Jugend arbeiten.

Standard: Das Theater der Jugend hat sich immer wieder kritisch zu politische­n und gesellscha­ftlichen Entwicklun­gen geäußert. Wie schlagen sich die aktuellen Umbrüche im Spielplan 2018/19 nieder? Birkmeir: Es gibt zwei Linien: den Gegensatz zwischen Arm und Reich und Eskapismus angesichts der politische­n Situation. Wir finden die derzeitige­n Entwicklun­gen bedenklich, davor haben wir immer gewarnt. Man ist so hilflos und will den Leuten ins Gesicht schreien: Seids ihr wahnsinnig? Das ist gerade 70 Jahre her, und ihr lasst euch wieder vereinnahm­en! Die Asyldebatt­e ist eine Niederlage für demokratis­ches Denken. Als Kind wächst man heutzutage damit auf, dass die Erwachsene­n monatlich zig Menschen im Mittelmeer ersaufen lassen. Dass eine gewisse Wortwahl plötzlich wieder geht. Bauer: Ausgrenzun­g ist wieder salonfähig. Darüber muss man nachdenken, gerade am Theater. Die Kinder üben ja hier zum ersten Mal diese Kunstform ein.

Standard: In der ersten Premiere, dem Astrid-Lindgren-Klassiker „Ronja Räubertoch­ter“, ist etwa die Angst vor dem Fremden Thema ... Birkmeir: Diese fremde Räuberfami­lie nistet sich ja auch noch direkt im Terrain von Ronjas Familie ein. Das ist eigentlich ein Nazibegrif­f: Fremde, die sich wie Ungeziefer „einnisten“. Bauer: Xenophobie ist tief im Unterbewus­sten verankert. Daher fällt es dem Populismus wahnsinnig leicht, die Angel auszuwerfe­n – und die Leute fallen darauf rein. Birkmeir: Die Populisten schüren das, sie wollen gar keine Integratio­n. In dem Moment, in dem sich Leute begegnen, relativier­en sich Angst und Abwehr, man sieht: Das ist auch nur ein Mensch. Dieser Spaltung, die bei Ronja Räubertoch­ter genauso existiert wie bei uns, wollen wir entgegenwi­rken. Statt sie zu vertiefen, wollen wir kitten und fragen: Was haben wir für Möglichkei­ten des Miteinande­rs? Solche Fragen werden gar nicht mehr gestellt. Viel mehr als noch vor zehn, zwanzig Jahren wird heute gefragt: Was trennt uns?

Standard: Deshalb ist es wichtig, Menschen unterschie­dlichster Herkunft und Milieus im Theater zusammenzu­bringen. Gelingt das? Bauer: Unser Publikum ist sehr inhomogen, wir erreichen auch die unterprivi­legierten oder weniger reichen Kinder. Wir wissen nachweisli­ch, dass ganz unterschie­dliche Bevölkerun­gsschichte­n zu uns kommen, gerade auch vom Land. Viel findet hier durch den Idealismus der Lehrer und Lehrerinne­n statt, denen es ein Anliegen ist, den Kindern diese Erfahrung von Theater zu ermögliche­n. Birkmeir: Ich plädiere dafür, vor allem Kinder- und Jugendthea­ter so gut wie möglich zu subvention­ieren. Das ist von gesellscha­ftlichem Interesse, wir machen’s ja nicht – zumindest nicht nur – zu unserem Vergnügen! Unsere Verantwort­ung ist, nach den Möglichkei­ten von Zusammenle­ben, Demokratie, Toleranz zu fragen.

Standard: Dabei sind das doch eigentlich humanistis­che oder schlicht humane Werte. Birkmeir: Mir ist human am liebsten. Wir tun nichts anderes, als jahrtausen­delang erkämpfte Menschenre­chte, als die Errungensc­haften von uns Menschen auf die Bühne zu stellen. Schön finde ich zum Beispiel bei Ronja Räubertoch­ter, dass es die nächste Generation ist, die wieder den Sprung zur Synthese schafft. Oder dass es der kleine Lord ist, der für demokratis­che Werte kämpft.

Standard: Wogegen es anzukämpfe­n gilt, das zeigt das Stück „Oliver Twist“, das ab Oktober zu sehen ist. Bauer: Jethro Compton hat sich entschiede­n, das ins Heute und ins Straßenkin­dermilieu zu verlegen. Es handelt sich ja nicht nur um ein historisch­es Sujet, das passiert jetzt und hier bei uns in Wien. Man geht davon aus, dass zwischen drei- und sechshunde­rt Kinder und Jugendlich­e auf der Straße leben. Wir stellen uns die Frage: Wie landet man dort? Birkmeir: Hier zeigt sich ganz stark das Spannungsf­eld zwischen Reich und Arm: Wozu kann Armut einen bringen? Die Figur der Nancy bringt sie dazu, sich zu prostituie­ren. Oliver Twist ist keine klischeege­schwängert­e Geschichte, da geht es ums Überleben! Diese Verelendun­gsängste haben auch heute großes Potenzial und sind mit ein Grund, warum die Rechte so stark ist. Oliver Twist ist kein Revolution­sstück – aber es stellt zumindest eine Frage, die jedes Kind stellt: Warum gibt es Reich und Arm? Warum lebt in Österreich jedes siebte Kind unter der Armutsgren­ze?

Standard: Es wäre ja schon viel damit getan, dass man durch so ein Stück Empathie entwickelt für die, denen es weniger gut geht ... Bauer: Genau da ist Theater gefragt! Theatersch­auen ist eine Schule der Empathiefä­higkeit.

Standard: Der kleine Lord hat diese Fähigkeit, und sie bringt ihn dazu, etwas verändern zu wollen. Bauer: Der Junge stellt fest, dass an dem System etwas nicht stimmt und soziale Gerechtigk­eit Frieden garantiert. Nur wenn alle am Tisch satt werden, kann es Frieden geben. Daneben fragt die Geschichte: Was ist Demokratie? Dafür, dass der Roman 1886 geschriebe­n wurde, beantworte­t die Autorin diese Frage sehr mutig. Ich finde es schön, dass ein Kind fragt: Unter welchen Bedingunge­n kann es uns allen gutgehen? Birkmeir: Dieser kleine Lord Fauntleroy ist ein Revolution­är. Durch die Empathie, die er bei seinem Großvater weckt, schafft er es, das System umzudrehen.

 ??  ?? Der wohl bekanntest­e Waisenjung­e der Literatur, aus Charles Dickens’ Feder: Oliver Twist (Stefan Rosenthal) ist Taschendie­b, Straßenkin­d, aber auch ein wahrer Kindheitsh­eld.
Der wohl bekanntest­e Waisenjung­e der Literatur, aus Charles Dickens’ Feder: Oliver Twist (Stefan Rosenthal) ist Taschendie­b, Straßenkin­d, aber auch ein wahrer Kindheitsh­eld.
 ??  ?? GERALD MARIA BAUER (geb. 1972) ist seit 2002 Chefdramat­urg und stellv. Leiter am Theater der Jugend.
GERALD MARIA BAUER (geb. 1972) ist seit 2002 Chefdramat­urg und stellv. Leiter am Theater der Jugend.
 ??  ?? THOMAS BIRKMEIR (geb. 1964), Regisseur und Autor, leitet das Theater der Jugend seit 2002.
THOMAS BIRKMEIR (geb. 1964), Regisseur und Autor, leitet das Theater der Jugend seit 2002.

Newspapers in German

Newspapers from Austria