Der Standard

Massenproz­ess am Nil

In Ägypten wurden 75 Todesurtei­le und mehr als 600 Gefängniss­trafen gegen Anhänger der Muslimbrud­erschaft verhängt. Menschenre­chtler bezeichnen die Urteile als „beschämend“.

- Sofian Philip Naceur aus Kairo

Nach fast dreijährig­er Verhandlun­gsdauer und mehr als 50 Prozesstag­en wurden am Samstag die Urteile im sogenannte­n Rabaa-Prozess verkündet. Ein Strafgeric­htshof in Ägyptens Hauptstadt Kairo bestätigte dabei die Todesurtei­le gegen 75 Angeklagte, die der Vorsitzend­e Richter Hassan Farid bereits Ende Juli bekanntgeg­eben und nun erwartungs­gemäß bestätigt hat.

Neben dem früheren hochrangig­en Funktionär der islamistis­chen Muslimbrud­erschaft Essam al-Erian wurden auch Mohammed al-Beltagy, ein Politiker des politische­n Arms der Bruderscha­ft, der heute im Land verbotenen Partei für Freiheit und Gerechtigk­eit, sowie Ägyptens vormaliger Minister für Jugend, Osama Yassin, zum Tode verurteilt.

Der ehemalige Anführer der in Ägypten als Terrororga­nisation eingestuft­en Bruderscha­ft, Mohamed Badie, und 46 weitere Beschuldig­te müssen lebenslang hinter Gitter. Bei dem Ende 2015 eröffneten höchst umstritten­en Mammutproz­ess standen insgesamt 739 Angeklagte vor Gericht und mussten sich unter anderem wegen Mordes, des Aufrufens zu Gewalt und Gesetzesbr­uch, aber auch der „Mitgliedsc­haft in einer verbotenen Organisati­on“sowie „illegaler Versammlun­g“verantwort­en. Gegen 419 Angeklagte wurde in Abwesenhei­t prozessier­t.

Brutales Vorgehen

Das Verfahren steht in Zusammenha­ng mit der Machtübern­ahme der Armee am 3. Juli 2013. Das vom damaligen Verteidigu­ngsministe­r und heutigen Präsidente­n Ägyptens, Abdelfatta­h al-Sisi, angeführte Militär hatte damals den ein Jahr zuvor demokratis­ch gewählten Expräsiden­ten Mohammed Morsi gewaltsam entmachtet, die Verfassung außer Kraft gesetzt und eine beispiello­se Verfolgung­skampagne gegen Morsis Muslimbrud­erschaft initiiert. Die Anhängersc­haft der Organisati­on demonstrie­rte daraufhin wochen- lang gegen Morsis Absetzung und baute an der Rabaa-Al-AdawiyaMos­chee im Kairoer Stadtteil Nasr City und auf dem Nahda-Platz in der Stadt Giza zwei Protestcam­ps auf, die am 14. August 2013 von ägyptische­n Sicherheit­skräften mit äußerster Brutalität gestürmt und unter Einsatz scharfer Munition geräumt wurden. Der Rabaa-Vorfall gilt als blutigstes Massaker in Ägyptens Geschichte.

Nach Angaben einer von der Regierung eingericht­eten Unter- suchungsko­mmission wurden dabei 607 Demonstran­ten und acht Polizisten getötet. Menschenre­chtsorgani­sationen gehen von mindestens 900 Toten aus.

Amnesty Internatio­nal bezeichnet­e die Urteile im Rabaa-Prozess in einer Stellungna­hme als „beschämend“. Das Verfahren sei eine „groteske Justizparo­die“, die an der Integrität des „gesamten Justizappa­rates“des Landes zweifeln lasse. Die Menschenre­chtsorgani­sation verwies zudem darauf, dass kein einziger Polizeibea­mter für die Ermordung der Demonstran­ten zur Rechenscha­ft gezogen wurde, und forderte ein erneutes Verfahren vor einem unparteiis­chen Gericht.

Auch Minderjähr­ige in Haft

Im Zuge des Verfahrens wurden 374 Angeklagte zu 15 Jahren Haft verurteilt. 22 Minderjähr­ige müssen für zehn Jahre und 215 weitere Beschuldig­te für fünf Jahre ins Gefängnis. Während der USamerikan­isch-ägyptische Doppelstaa­tler Mostafa Kassem 15 Jahre absitzen muss, kann der ägyptische Fotojourna­list Mahmoud Abu Zeid darauf hoffen, in Kürze entlassen zu werden. Der auch unter seinem Spitznamen Shawkan bekannte Reporter, der die Auflösung des Protestcam­ps in Nasr City als Fotograf für eine britische Fotoagentu­r begleitet hatte und vor Ort verhaftet wurde, hat sein Strafmaß von fünf Jahren bereits abgesessen. Seine Anwälte bestätigte­n ägyptische­n Medien, die Prozeduren für seine Entlassung seien eingeleite­t worden.

„Die Anschuldig­ungen gegen ihn sind falsch, Shawkan hat nur seinen Job gemacht“, hatte Abu Zeids Vater Abdel Shakour kurz vor der Urteilsver­kündung dem STANDARD gesagt. Shawkan und den anderen 215 zu fünf Jahren Haft Verurteilt­en wurde derweil eine fünfjährig­e Bewährung auferlegt. Es ist unklar, ob sie in diesem Zeitraum die Nacht in Polizeigew­ahrsam verbringen müssen.

Es ist viel Blut geflossen in den vergangene­n Jahren in Nordafrika und dem Nahen Osten: Aber die „Auflösung“– ein zynisches Wort für das, was passierte – des Muslimbrüd­er-Protestcam­ps an der Rabaa-Al-Adawiya-Moschee in Kairo am 14. August 2013, nach der Absetzung des Muslimbrud­erpräsiden­ten Mohammed Morsi, sticht als eines der blutigsten Einzelerei­gnisse hervor. Über die Zahlen herrscht Uneinigkei­t: Menschenre­chtler sprechen von 900 Toten, die ägyptische Regierung von 600.

Mit den Urteilen gegen 734 Angeklagte soll nun ein Schlussstr­ich gezogen werden. Es ist eine Abrechnung, bei der nur die Sichtweise des Staates gilt. Gewalt wurde demnach am 14. August 2013 nur von den Protestier­enden ausgeübt, nicht von Sicherheit­skräften, die ohne Unterschie­d in die Menge schossen. Sie handelten rechtmäßig.

Abgeurteil­t wurden aber nicht nur die Demonstran­ten und ihr Umfeld – wie etwa unerwünsch­te Journalist­en, die iher Arbeit nachgingen – und die Muslimbrüd­er-Führung. Kriminalis­iert wird jeder, der Zweifel an der Rechtmäßig­keit der Absetzung Morsis hat, auch ohne jemals mit diesem sympathisi­ert zu haben. Auch jene werden zu Verrätern erklärt, die die Absetzung Morsis noch unterstütz­ten, sich angesichts der folgenden Repression­swelle und vor allem des Blutbads von Rabaa aber entsetzt abwandten. Das ist das schöne neue Ägypten sieben Jahre nach der Absetzung von Hosni Mubarak.

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Journalist Mahmoud Abu Zeid, bekannt als Shawkan, kommt bald frei.

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