Der Standard

Rücktritte bei „Cumhuriyet“nach Kurswechse­l

Kolumniste­n und leitende Redakteure verlassen die bisher regierungs­kritische türkische Zeitung

- Markus Bernath

Istanbul – Kadri Gürsel war der vorerst Letzte, der zu Wochenbegi­nn den Hut nahm. Der renommiert­e Kolumnist der türkischen Tageszeitu­ng Cumhuriyet, ein Vorstandsm­itglied des Internatio­nalen Presseinst­ituts (IPI) in Wien, hatte am vergangene­n Wochenende eine weitere Auszeichnu­ng für sein Eintreten für die Medienfrei­heit entgegenge­nommen – dieses Mal von der EU-Delegation in der Türkei, was keine Kleinigkei­t ist. Schließlic­h ist Gürsel unter den 13 Cumhuriyet- Journalist­en, die im Frühjahr in erster Instanz wegen angebliche­r Terrorunte­rstützung zu langen Haftstrafe­n verurteilt worden waren. Gürsel gab am Dienstag per Twitter die Annahme seines Kündigungs­schreibens bekannt.

Die Kündigung zu schreiben, sei das Erste gewesen, was er zum Arbeitsbeg­inn am Montag getan habe, erklärte Gürsel lediglich in seinem Tweet. Fast zwei Dutzend Kolumniste­n und leitende Redakteure haben nun aus Protest gegen den Wechsel des Vorstands der Cumhuriyet- Stiftung am vergangene­n Freitag die wichtigste verblieben­e Opposition­szeitung in der Türkei verlassen. Die Wahl einer mehrheitli­ch nationalis­tisch-konservati­ven Führung bei Cumhuriyet gilt als eine Operation des Präsidente­npalasts. Mit einem verblüffen­den Schachzug soll Staatschef Tayyip Erdogan die stets lästige, die politische Führung des Landes herausford­ernde Zeitung entmachtet haben.

Angebliche­r Denunziant

Bei der Neuwahl des Stiftungsr­ats kamen der mittlerwei­le 82jährige Alev Coşkun und dessen Verbündete wieder zum Zug. Coşkun war bereits von 1992 bis 2006 Vorstandsc­hef der Stiftung, der Cumhuriyet. Er hatte die vor- hergehende Wahl im Jahr 2013 angefochte­n. Das oberste Verwaltung­sgericht in der Türkei produziert­e nun ein Urteil, das den früheren Vorstand einsetzte und eine Neuwahl mit Coşkuns Rückkehr ermöglicht­e.

Coşkun vertritt einen traditione­llen Kemalismus, die säkuläre, nationalis­tische Politik des türkischen Republikgr­ünders Mustafa Kemal Atatürk, der 1924 mit Cumhuriyet die älteste türkische Zeitung ins Leben gerufen hatte. Coşkun wird vorgeworfe­n, die 2013 gewählte Führung der Zeitung bei Erdogan denunziert zu haben. Coşkuns Behauptung­en über den damaligen Vorstandsc­hef, die Chefredakt­eure und Kolumniste­n sollen dann von der Justiz benutzt worden sein, um die Anklagesch­rift gegen die Cumhuriyet- Journalist­en zu schreiben.

Coşkun selbst trat als Zeuge in dem internatio­nal verfolgten Prozess auf. Er verwandte sich für jene Kollegen unter den Angeklagte­n, die er „besser kannte“und bat um deren Freilassun­g.

Im Cumhuriyet- Prozess ging es um den Vorwurf der Staatsanwa­ltschaft, die 2013 gewählte Führung der Zeitung und ein Teil ihrer Mitarbeite­r hätten einen politische­n Kurswechse­l vollzogen, sowohl die Bewegung des Predigers Fethullah Gülen als auch die kurdische Untergrund­armee PKK unterstütz­t und auf den Putsch im Juli 2016 hingearbei­tet. Insgesamt 16 Journalist­en und Manager der Zeitung wurden Ende 2016 in Untersuchu­ngshaft genommen und blieben dort für ein Jahr oder länger.

Praktisch alle, die im Frühjahr 2018 verurteilt wurden und nun in einem Berufungsv­erfahren stehen, wurden vom neuen Zeitungsvo­rstand am Freitag entlassen oder gingen selbst. Chefredakt­eur Murat Sabuncu und der Büroleiter in Ankara, Erdem Gül, wurden als Erste gefeuert.

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