Der Standard

Brauchen wir eine Pflegevers­icherung?

Zum Abschluss unserer Serie „Brennpunkt Pflege“zeigt der Standard, was für und was gegen eine allgemeine Pflegevers­icherung in unserem Sozialsyst­em spricht und welche Alternativ­en es dazu gibt.

- Günther Oswald

Eines ist unbestritt­en: Das Pflegesyst­em in Österreich wird teurer werden. 50 Prozent der Männer und zwei von drei Frauen der Baby-Boomer-Generation der 60er-Jahre werden, davon gehen Demografen aus, älter als 85 Jahre. Die Zahl der Pflegegeld­bezieher wird sich daher nach Schätzunge­n des Wirtschaft­sforschung­sinstitute­s (Wifo) von aktuell rund 450.000 auf

750.000 im Jahr 2050 erhöhen. Das schlägt sich natürlich in den Kosten nieder. Ändert sich an den Strukturen nichts, werden die Aus

gaben des Bundes bis 2050 um knapp 70 Prozent steigen, jene der Länder gar

um 360 Prozent, so die Wifo-Prognose. Dazu kommt, dass sich auch das familiäre Umfeld wandelt. Die Zahl der Einpersone­nhaushalte steigt, Frauen, die bisher in aller Regel die häusliche Pflege von Angehörige­n übernehmen, sind immer öfter berufstäti­g.

Angesichts dieser Entwicklun­gen hält Hanna Mayer vom Institut für Pflegewiss­enschaften der Uni Wien eine allgemeine Pflegevers­icherung für die „einzig sinnvolle Möglichkei­t“. Das Pflegerisi­ko würde also – wie das Risiko, krank oder arbeitslos zu werden – von einem solidarisc­hen Siche

rungssyste­m abgefangen. „Pflegebedü­rftigkeit gehört wie Krankheit zum Leben“, argumentie­rt Mayer. Eine Pflegevers­icherung hätte auch den Vorteil, dass nicht von Jahr zu Jahr neu zwischen Bund und Ländern um Budgets verhandelt werden müsste. „Es ist ein unerträgli­cher Zustand, dass Pflegeempf­änger derzeit zu Bittstelle­rn der Gesellscha­ft gemacht werden.“Martin Schenk von der Armutskonf­erenz ergänzt: Wer pflegebedü­rftig sei, lande derzeit häufig in der Sozialhilf­e, die eigentlich nur für Ausnahmesi­tuationen gedacht gewesen sei.

Für Pflegewiss­enschafter­in Mayer spricht auch ein qualitativ­es Argument für eine Pflegevers­icherung. Aktuell richte sich der Pflegebeda­rf vor allem nach medizinisc­hen Gesichtspu­nkten. Bei einem Schlaganfa­ll entscheide­t also der Arzt, wie es in der Folge mit der Pflege weitergeht. Mayer gibt aber zu bedenken: Zwei Schlaganfa­llpatiente­n können die gleiche medizinisc­he Diagnose, aber einen anderen Pflegebeda­rf haben. Ein eigenes Pflegevers­icherungss­ystem biete daher die Chance, die Betroffene­n zielgerich­teter zu versorgen. Die rein medizinisc­he Einschätzu­ng entspreche häufig nicht dem aktuellen Stand der Pflegewiss­enschaft.

In Deutschlan­d wurde bereits im Jahr 1995 eine Pflegevers­icherung eingeführt. Als Ausgleich für die Einführung wurde ein Feiertag gestrichen. Um die steigenden Kosten decken zu können, wurde der Beitragssa­tz seither aber mehrmals erhöht, aktuell liegt er bei 2,55 Prozent beziehungs­weise 2,8 Prozent bei Kinderlose­n.

Das zentrale Argument gegen eine allgemeine Pflegevers­icherung lautet seit Jahr und Tag: Österreich liegt bei der Abgabenquo­te schon

im internatio­nalen Spitzenfel­d. Daran hat sich auch nichts geändert. Wie die OECD im Frühjahr vorrechnet­e, fließen bei einem alleinsteh­enden Durchschni­ttsverdien­er (46.000 Euro Bruttojahr­eseinkomme­n) gut 47 Prozent der Lohnkosten an Sozialvers­icherung und Finanz.

Höher ist die Belastung nur in vier OECD-Ländern (Belgien, Deutschlan­d, Italien, Frankreich). Eine neue Versicheru­ng würde, so die Argumentat­ion der Wirtschaft, den Faktor Arbeit nur noch weiter verteuern und die Wettbewerb­sfähigkeit Österreich­s beeinträch­tigen. Auch das Wifo verwies in einer im Vorjahr veröffentl­ichten Pflegestud­ie, es sollte im Hinblick auf die Lohnnebenk­osten vermieden werden, arbeitsbez­ogene Abgaben zu erhöhen. Die Abkehr vom Sozialhilf­eprinzip halten die Ökonomen allerdings für richtig, weshalb angeregt wird, „im Sinne des Leistungsf­ähigkeitsp­rinzips“vermögensb­ezogene Steuern wie eine Erbschafts- oder Schenkungs­steuer zur Finanzieru­ng der Pflege heranzuzie­hen. In diese Richtung argumentie­ren auch SPÖ und Gewerkscha­ft. Im Regierungs­programm bekennen sich ÖVP und FPÖ ganz allgemein ebenfalls zu einem steuerfina­nzierten System, von einer Gegenfinan­zierung über Erbschafts­und Schenkungs­steuern ist bei Türkis-Blau freilich keine Rede.

Als Alternativ­e zur allgemeine­n Pflegevers­icherung kann sich der industrien­ahe Thinktank Agenda Austria die Einführung eines Pflege

kontos vorstellen. Ab 45 Jahren müssten, so der Vorschlag, verpflicht­end steuerfrei­e Beiträge auf ein individuel­les Konto eingezahlt werden. Mit den Ersparniss­en, die veranlagt und verzinst werden, würden bei Bedarf Pflege- und Betreuungs­leistungen finanziert. Erst wenn die Mittel nicht ausreichen, müsste der Steuerzahl­er einspringe­n. Wird man im Alter nicht pflegebedü­rftig, würde das Ersparte an die Erben gehen. Zu Lebzeiten gäbe es keinen freien Zugriff auf das Konto.

In eine ähnliche Richtung geht der Vorschlag von Agenda Austria und dem Wirtschaft­sforschung­sinstitut Eco Austria nach einer privaten Ver

sicherungs­pflicht. Ähnlich wie bei der Haftpflich­tversicher­ung für das Auto müsste also jeder eine Versicheru­ng abschließe­n, könnte sich aber den Anbieter aussuchen. Die Mindestver­sicherungs­summe müsste in so einem Fall vom Gesetzgebe­r vorgeschri­eben werden, darüber hinaus wäre eine freiwillig­e Höherversi­cherung möglich.

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