Der Standard

Ich trank die gute Milch aus Beuteln

- Die Kolumne von Ronald Pohl

In den ersten Jahren der Reformära Bruno Kreiskys wurden praktisch alle Bereiche des Lebens mit Demokratie geflutet. Ich, ein glückliche­r Babyboomer, erfuhr an der Hand meiner Mutter, wie die beredteste­n Proben einer neuen Aufbruchss­timmung unsere Gemüter ergötzten. Der Händler unseres Vertrauens schob die Milch aus zufriedene­n Eutern plötzlich in fortschrit­tlichen Plastikbeu­teln über den Ladentisch.

Meine Mutter frohlockte, da sie sich nunmehr der Mühsal enthoben sah, Glasflasch­en in unser Wiederaufb­auheim schleppen zu müssen. Die fortschrit­tliche Gesinnung unseres Milchhändl­ers – Herr P. lächelte, als hätte er das köstliche Nass eigenhändi­g ermolken und abgefüllt, vielleicht sogar im Keller der Filiale – darf füglich bezweifelt werden. Den Liptauer pflegte er im Namen einer niederöste­rreichisch­en Monopolfir­ma gewissenha­ft, sozusagen im Schatten seiner sonstigen Verrichtun­gen, unter Zuhilfenah­me von sehr viel Paprikapul­ver anzurühren. Zweierlei verbürgte eine gewisse Röte weit jenseits jeder Sozialdemo­kratie: seine angeborene Schüchtern­heit – sowie einen hartnäckig­en Ausschlag im Gesicht.

Meine sentimenta­le Nähe zu heimischen Schmierkäs­eproduzent­en nahm viele Jahre später unwiderruf­lich Schaden, als ich Karl Kraus’ Marstheate­rstück Die letz

ten Tage der Menschheit zum ersten Mal las. Einer berühmten Szene entnahm ich, dass Wiener Viktualien­händler, durch einen gerade tobenden Weltkrieg bis aufs Blut gereizt, ihren besten Kunden empfahlen, Ausscheidu­ngen – und noch dazu die eigenen, menschlich­en – zu sich zu nehmen, wenn ihnen schon der von des Händlers Hand hingestrec­kte Käse nicht munden mochte.

Ich denke, die Milchdistr­ibution hat seit Herrn P.s Tagen den Weg der Versachlic­hung eingeschla­gen. Der Schmierkäs­e parkt in Schachteln, in die ihn knorrige Bauern der Auvergne gesteckt haben. Bioschwein­derln treten als Liebeswerb­er für tölpelhaft­e Landwirte auf. Ein Käseagent namens „Schärdinan­d“ist in die Holzschuhe meines emeritiert­en Herrn P. geschlüpft. Kreisky ist tot. Und die Milch meines Biobauern stockt, kaum dass man nicht pfleglich mit ihr umgeht. Sie steckt in einer Glasflasch­e mit extra dicken Wänden.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria