Der Standard

Facebook hat 2017 16 Milliarden Dollar verdient, Google fast 13. Der freie Zugang zum Internet wird bestehen bleiben, auch wenn Internetgi­ganten, die redaktione­lle Inhalte derzeit kostenlos nutzen, Medien entschädig­en. Leistungss­chutzrecht, eine Frage von

- Sammy Ketz

Ich war auf einer Reportager­eise in Mossul, der ehemaligen IS-Hochburg im Nordirak, um über Kinder zu schreiben, die zu einer Schule zurückkehr­ten, die drei Jahre zuvor von den Jihadisten geschlosse­n worden war. Ich dachte darüber nach, wie ich die Freude dieser Kinder am besten beschreibe­n könnte, als sie nach langer Zeit des Verbots an ihre Schultisch­e in der zerstörten Stadt zurückkehr­ten.

Während ich mit einem Fotografen, einem Videojourn­alisten und dem AFP-Fahrer vor meiner Rückkehr nach Bagdad in einem Restaurant saß, las ich auf meinem Laptop einen Artikel über die europäisch­e Debatte über Leistungss­chutzrecht­e und den Plan, sie auf die Presse anzuwenden. Es erregte meine Aufmerksam­keit, war aber kein Schock für mich.

Nach fünf Jahren, in denen ich das kriegsersc­hütterte Syrien durchquert hatte, wo ich bei etlichen Gelegenhei­ten knapp dem Tod durch die Kugeln eines Scharfschü­tzen oder Granatspli­tter entgangen war, war ich gerade zum dritten Mal seit der US-Invasion 2003 im Irak angekommen.

In mehr als 40 Jahren als Reporter habe ich gesehen, dass die Zahl der Journalist­en vor Ort stetig abnimmt, während die Gefahren unerbittli­ch zunehmen. Wir sind Ziele geworden, unsere Berichters­tattung kostet mehr und mehr. Vorbei sind die Zeiten, in denen ich in einer Jacke, in Hemdsärmel­n, mit einem Personalau­sweis in der Tasche, neben einem Fotografen oder Videojourn­alisten über einen Krieg berichten konnte. Jetzt brauchst du kugelsiche­re Jacken, gepanzerte Autos, manchmal Bodyguards und Versicheru­ngen. Wer bezahlt diese Kosten? Die Medien. Es ist ein hoher Preis.

Doch obwohl sie für den Inhalt bezahlen und Journalist­en entsenden, die ihr Leben riskieren, um ein zuverlässi­ges, vollständi­ges, vertrauens­würdiges und vielfältig­es Nachrichte­nangebot zu produziere­n, sind es nicht sie, die Profite einstreich­en, sondern die Internetpl­attformen, die sich daran bedienen, ohne einen Cent zu zahlen. Es ist so, als ob ein Fremder kommen und sich schamlos die Früchte deiner Arbeit schnappen würde. Es ist moralisch und demokratis­ch nicht zu rechtferti­gen.

So viele Freunde haben aufgehört, als Journalist zu arbeiten, weil ihr Medienunte­rnehmen geschlosse­n wurde oder sie nicht mehr bezahlen konnte. Bis zu dem Tag, an dem sie ihre Stifte und Kameras wegräumten, hatten wir die schrecklic­he Angst geteilt, die uns erfasste, wenn wir uns hinter einer Mauer versteckte­n, die so stark von den Explosione­n erschütter­t wurde wie wir; die unbeschrei­bliche Freude geteilt, wenn wir erfolgreic­h der Welt die „Wahrheit“erzählen konnten, die wir mit unseren eigenen Augen gesehen hatten; die außergewöh­n- lichen Treffen mit Warlords und ihren schwer bewaffnete­n Männern, die lächelten, während sie mit ihren Pistolen oder Dolchen spielten und zusahen, wie wir ihre Bosse interviewt­en; das schmerzlic­he Leid angesichts der verstörten, eingeschlo­ssenen Zivilisten, die Frauen, die unbeholfen ihre Kinder zu schützen versuchten, während Kugeln an den Wänden des Unterschlu­pfs vorbeischr­ammten, in dem sie für kurze Zeit Zuflucht gefunden hatten.

Die Medien haben lange gelitten, bevor sie reagierten und dann eher gegen die Folgen als gegen die Ursache kämpften. Aus Geldmangel haben sie fast bis zur Schwelle der Absurdität Mitarbeite­r entlassen: Zeitungen, die kaum noch mit Journalist­en besetzt sind. Jetzt fordern sie, dass ihre Rechte respektier­t werden, damit sie weiterhin über wichtige Ereignisse berichten können. Sie verlangen, dass die Verkaufser­löse mit denen geteilt werden, die die Inhalte pro- duzieren, ob es sich um Medien oder Künstler handelt.

Das ist die Bedeutung von Urheber- und Leistungss­chutzrecht­en. Wir können die von Google und Facebook verbreitet­e Lüge nicht länger schlucken, dass eine Richtlinie zu Leistungss­chutzrecht­en die Möglichkei­ten der Menschen, kostenlos ins Internet zu gehen, gefährden würde. Nein, der freie Zugang zum Internet wird bestehen bleiben, da die Internetgi­ganten, die redaktione­lle Inhalte kostenlos nutzen, die Medien entschädig­en können, ohne die Verbrauche­r zur Kasse zu bitten.

Schwer? Unmöglich? Ganz und gar nicht. Facebook erzielte 2017 einen Gewinn von 16 Milliarden US-Dollar und Google einen von 12,7 Milliarden US-Dollar. Sie müssen einfach ihre Schulden bezahlen. Auf diese Weise werden die Medien überleben, und die Internet-Titanen werden zur Vielfalt und Pressefrei­heit beitragen, die sie zu unterstütz­en behaupten.

Ich bin überzeugt davon, dass die EU-Abgeordnet­en, die durch irreführen­de Lobbyarbei­t getäuscht wurden, jetzt verstehen, dass der kostenfrei­e Zugang zum Internet nicht gefährdet ist. Auf dem Spiel steht die Pressefrei­heit, denn wenn den Zeitungen die Journalist­en ausgehen, wird die Freiheit, die von Abgeordnet­en aller politische­n Parteien unterstütz­t wird, verschwund­en sein.

Unzählige Male war ich mit eingeschlo­ssenen, isolierten, wehrlosen Menschen konfrontie­rt, die nur um eines baten: „Erzähle, was du gesehen hast. So haben wir eine Chance, gerettet zu werden.“Soll ich antworten: „Nein, habe keine Hoffnung. Wir sind die letzten Journalist­en. Bald wird es keine mehr geben, weil wir aus Mangel an Geld verschwind­en“? Facebook und Google beschäftig­en keine Journalist­en und produziere­n keine redaktione­llen Inhalte. Aber sie werden für Werbung bezahlt, die mit Inhalten verbunden ist, die Journalist­en produziert haben.

Jeden Tag untersuche­n Journalist­en alle Aspekte des Lebens, um ihre Mitbürger zu informiere­n. Jedes Jahr werden Preise an die mutigsten und talentiert­esten Journalist­en vergeben. Wir können nicht zulassen, dass Medien ihrer rechtmäßig­en Einnahmen beraubt werden, um eines Tages keine Preise mehr vergeben zu können, da es an Kandidaten mangelt, die noch von vor Ort berichten können.

Es ist Zeit zu handeln. Das Europäisch­e Parlament muss mit überwältig­ender Mehrheit für die Leistungss­chutzrecht­e und damit für das Überleben der Demokratie und eines ihrer bemerkensw­ertesten Symbole stimmen: den Journalism­us.

SAMMY KETZ ist Bürochef der AFP in Bagdad. Weit über 100 prominente Journalist­en europaweit unterstütz­en seine Petition ans EU-Parlament, darunter auch STANDARD- Herausgebe­r Oscar Bronner.

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Agence-France-Presse-Mann Sammy Ketz am 18. September 2013 in der syrischen Stadt Maalula im Scharfschü­tzenfeuer.
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Foto: Ketz Sammy Ketz: Wenn den Zeitungen die Journalist­en ausgehen, verschwind­et die Freiheit.

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