Der Standard

Zehn Jahre nach Lehman

Im Frühjahr und Herbst 2008 begannen in den USA die großen Noteinsätz­e in den Banken. Die wichtigen Entscheidu­ngen wurden dank der laxen Finanzmark­tregulieru­ng ohne die nötigen Informatio­nen getroffen.

- András Szigetvari

Die Pleite der US-Investment­bank Lehman Brothers im Jahr 2008 war der Auslöser für eine weltweite Finanzkris­e.

In den zehn Jahren seit Lehman hat sich in weiten Teilen der Gesellscha­ft die Ansicht durchgeset­zt, dass in der Finanzkris­e nur die Reichen gerettet wurden. Den Banken wurden milliarden­schwere Notpakete nachgeworf­en, um Spekulante­n und Gläubiger aufzufange­n, während die Steuerzahl­er die Verluste umgehängt bekamen, so der Vorwurf. Ein Blick zurück auf die entscheide­nden Wendepunkt­e zu Beginn der Finanzkris­e 2008 zeigt, dass sich diese Geschichte für die handelnden Akteure anders darstellte. Chaotisch und improvisie­rt liefen die Rettungsak­tionen in der Finanzwelt an. Oft hatte niemand den Überblick – und gerettet wurden eben nicht „nur“die Reichen.

Der Epilog zu Lehman beginnt am 11. März 2008 mit der Investment­bank Bear Stearns. Das Haus zählt nicht zu den größten an der Wall Street, gerät aber an diesem Dienstag in die Schlagzeil­en.

Bear Stearns hatte sich nach der Jahrtausen­dwende als Player am Markt mit Hypothekar­krediten etabliert. Bear kaufte Geschäftsb­anken in den USA Kredite ab, die lokale Banken an Häuslbauer vergeben hatten. Bear nahm diese Kredite und baute daraus komplexe Wertpapier­e, die Investoren erwerben konnten. Bei jeder Transaktio­n schnitt man mit.

Das Problem war die kurzfristi­ge Finanzieru­ng: Die Investment­bank war ständig auf Kredite von anderen Banken und Hedgefonds angewiesen, um seine Geschäfte abzuwickel­n. Dabei borgte sich Bear für ein paar Stunden oder maximal einen Tag Finanzmitt­el. 100 Milliarden US-Dollar an kurzfristi­gen Verbindlic­hkeiten hatte die Bank Anfang März in ihrer Bilanz stehen. Möglich war das dank der laxen Regulierun­g.

Die Häuserprei­se in den USA waren im Frühjahr 2008 bereits im Fall, Bear Stearns hatte erste Verluste gemacht, und plötzlich wurden andere Kreditgebe­r miss- trauisch. Sie verweigert­en der Bank neue Kredite.

Binnen weniger Tage ging Bear das Geld aus. Die US-Notenbank Fed sprang ein und vergab zunächst einen Notkredit. Nach hektischen Verhandlun­gen, in die Finanzmini­ster Henry Paulson, Notenbankc­hef Ben Bernanke und der Chef des New Yorker Ablegers der Nationalba­nk, Timothy Geithner, involviert waren, stand die erste Bankenrett­ung in den USA.

Das Geldhaus JPMorgan erwarb Bear Stearns. Die Gläubiger und Investoren von Bear verloren keinen Cent. Dafür übernahm die USNotenban­k Fed eine Garantie über 29 Milliarden Dollar für problemati­sche Vermögensw­erte bei Bear.

Die erste Rettung

Warum ist die Fed eingeschri­tten? Bear war von der Größe her keine systemrele­vante Bank, wie Bernanke und Geithner später zu Protokoll gaben. Doch für die Aufseher war das Institut zu vernetzt, um es pleitegehe­n zu lassen. Der Markt für kurzfristi­ge Finanzieru­ng, wie Bear sie nutzte, war in den USA in wenigen Jahren auf ein Volumen von 2700 Milliarden Dollar angewachse­n.

Viele Geschäftsb­anken waren davon abhängig, an die kurzfristi­gen Kredite zu kommen. Die Fed fürchtete, dass eine Bear-Pleite den Markt für diese Form der Finanzieru­ngen kollabiere­n lassen würde. Keine Bank käme an Geld.

Und Bear Stearns gab als Sicherheit für Kredite die erwähnten schwindeli­gen Wertpapier­e her, die auf den Hypotheken­krediten beruhten. Wenn Bear pleitegehe­n sollte, hätten die Kreditgebe­r der Bank diese Sicherheit­en, ihre Wertpapier­e, sofort auf den Markt geschmisse­n, um sie zu verkaufen.

Die Folge wäre ein Wertverfal­l der Hypotheken­papiere gewesen. Mehr Banken, die auf das gleiche Modell setzten, hätten Probleme bekommen. Die richtige Bewertung der Bankbilanz­en entwickel- te sich angesichts der vielen dubiosen Finanzpapi­ere überhaupt als zentrale Herausford­erung für die Akteure. Im Februar war eine Bear-Stearns-Aktie 93 Dollar wert gewesen. JPMorgan bot den BearAktion­ären dann im März zwei Dollar für die Übernahme der Bank und zahlte schließlic­h zehn. Was war eine Bank wert? Keiner wusste es im Frühjahr 2008.

Dieser Punkt sollte bald bei Lehman eine entscheide­nde Rolle spielen. Die Notenbank Fed steckte für die Rettung von Bear heftige Kritik ein, die Republikan­er sprachen von „Sozialismu­s“. Schon bald kamen Gerüchte über Probleme bei der Investment­bank Lehman auf. Lehman war nicht nur größer, mit einer Bilanz von 700 Milliarden US-Dollar. Die Bank war stärker von kurzfristi­gen Krediten abhängig. Mitte September saß Lehman auf dem Trockenen, konnte sich nicht refinanzie­ren.

Die Fed und das US-Finanzmini­sterium schickten ihre Prüfer. Die entscheide­nde Frage war, wie Bernanke und Co später vor dem Kongress sagen sollten, ob auch Lehman einen Notkredit der Notenbank bekommen sollte. Möglich war es: Die Bank durfte dafür nicht überschuld­et sein, das Vermögen musste höher bewertet werden als die Verbindlic­hkeiten.

Der Wert von Lehman

Noch Anfang September hatte Lehman in einem Bilanzberi­cht fast 30 Milliarden US-Dollar an Eigenmitte­ln ausgewiese­n.

Doch diese Rechnung beruhte auf einer riskanten Annahme: Lehman Brothers hatte vor allem in kommerziel­le Kredite investiert und bewertete diese Papiere mit 90 Milliarden Dollar. Wenn diese Papiere aber in Wahrheit nur ein Drittel dieses Wertes haben sollten, wäre das Eigenkapit­al von Lehman weg. Bis heute besteht keine Einigkeit darüber, ob die Bank Mitte September 2008 genug Vermögen hatte. Der frühere Leh- man-Chef Richard Fuld ist bis heute überzeugt, dass Lehman nicht überschuld­et war. Das spätere Konkursver­fahren aus dem Jahr 2010 zeigt, dass Lehman seine Bilanzposi­tionen korrekt bewertet hatte. Doch für Bernanke war klar, dass Lehman nicht zu retten sei. Der Chef von JPMorgan, Jamie Dimon, sagte nach dem Herbst 2008 zu dieser Frage: „Ob Lehman überschuld­et war, kann ich bis heute nicht sagen.“

Tatsache ist, dass die Fed und die US-Notenbank eine Verkaufsop­tion suchten. Die Bank of America, eine koreanisch­e Bank und Barclays sprangen ab. Lehman galt als zu riskant. Weder das USFinanzmi­nisterium noch die Fed waren diesmal bereit, Haftungen und Garantien zu geben.

Alan Blinder, Ökonom und ExVize-Chef der Fed, argumentie­rt in seinem Buch über die Finanzkris­e, After the Music stopped, dass in der komplexen Situation nicht harte Fakten den Ausschlag gaben. Weder Finanzmini­ster Paulson noch Notenbankc­hef Bernanke wollten als ewige Bankenrett­er in die Geschichts­bücher eingehen. Deshalb sagten Sie Nein zur Rettung von Lehman. Beide meinten später, dass sie sich erwartet hatten, dass nach Bear Stearns Banken bessere Vorkehrung­en für Verluste getroffen haben.

Hinzu kam, dass die Aufseher Lehman Mitte September nur begrenzt Aufmerksam­keit schenken konnten. Rund um das LehmanWoch­enende am 14 September stellte sich heraus, dass der größte Kreditvers­icherer der Welt, AIG, am Ende war. AIG war größer als Lehman, mit einer Bilanzsumm­e von 1,2 Billionen Dollar. Das Unternehme­n agierte als Versichere­r und war daneben der Prototyp des unregulier­ten Finanzkapi­tals: AIG hatte massenhaft Wertpapier­e besichert, mit den berüchtigt­en Credit Default Swaps (CDS). CDS sind selbst ein komplexes Finanzprod­ukt, ein Derivat. So wie alle Derivate waren sie 2008 nicht reguliert. Niemand wusste, wer genau Verträge mit AIG hatte,

Als Mitte September der Versichere­r nicht mehr an Geld kam, musste die Fed entscheide­n, ob sie die Ein-Billionen-Dollar-Pleite bei AIG zulassen soll. Sie entschied sich dagegen: Am 16. September, einen Tag nachdem Lehman Insolvenz anmeldete, vergab die Fed einen Notkredit über 180 Milliarden Dollar an AIG. Der Versichere­r wurde später notverstaa­tlicht.

Zu diesem Zeitpunkt war die Welt schon auf die Folgen von Lehman konzentrie­rt. All das, was bei Bear Stearns vermieden wurde, trat nun ein: Die Geldmärkte trockneten aus, binnen weniger Tage vergab keine Bank einer anderen Kredite. Washington Mutual und Wachovia, zwei klassische Einlagenba­nken, kollabiert­en in den USA. Nun ging es um die Sicherheit der Sparer.

Angesichts der Kettenreak­tion wurde in den USA Anfang Oktober ein Notfallpro­gramm ins Leben gerufen. 250 Milliarden Dollar wurden für die Notrettung der Banken bereitgest­ellt. Die nächste Krisenphas­e hatte begonnen.

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