Der Standard

Was die Kleinen brauchen und was sie bekommen

Laut. Lustig. Lehrreich? Was Kindergärt­en leisten, was den Pädagoginn­en die Arbeit erschwert und wie die Politik Reformen verzögert. der Standard widmet sich in einer Serie der ersten Bildungsst­ätte für die Kleinen.

- BESTANDSAU­FNAHME: Peter Mayr, Karin Riss

Früher war alles irgendwie einfacher. Da hießen die Pädagoginn­en noch „Tanten“, da standen die Muttis spätestens nach dem Mittagesse­n vor der Tür – und überhaupt sollte im Kindergart­en vor allem die Betreuung des Nachwuchse­s gesichert sein.

Damit ist längst Schluss. Heute soll der Kindergart­en bilden, integriere­n, soziale Startnacht­eile ausgleiche­n. Sogar der Name des Fachbereic­hs klingt jetzt irgendwie wichtiger: Elementarp­ädagogik. Seither vergeht kaum eine Politikerr­ede ohne Verweis auf die Bildungsch­ancen, die hier bereits im zarten Alter geschaffen werden. Alle wollen nur das Beste.

Das Beste, nur welches?

Gleichzeit­ig gibt es bei den Kindergärt­en so viele Zuständigk­eiten und Partikular­interessen, dass eine wirkliche Aufwertung schon daran scheitert, dass Bund, Länder und Gemeinden uneins sind, was denn nun das Beste für die Kleinsten der Gesellscha­ft sein soll – und vor allem: Wer soll es finanziere­n? Raphaela Keller, Vorsitzend­e der Berufsgrup­pe der Kindergart­en- und Hortpädago­ginnen (ÖDHK), kennt das Spiel: „Alle sind für den Kindergart­en als Bildungsei­nrichtung – nur die Rahmenbedi­ngungen für die Arbeit vor Ort passen nicht dazu.“

Es geht um längere Öffnungsze­iten, kleinere Gruppen, weniger Kinder pro Pädagogin, um deren Ausbildung und Bezahlung sowie das Geschlecht der Betreuer. Es geht um Sprachförd­erung, um den gelingende­n Wechsel in die Schule – und seit neuestem auch um das Kopftuch. Zu tun gibt es also einiges.

Derzeit ist es so: Die vielbeschw­orenen Bildungsch­ancen eines Kindes hängen stark davon ab, wo es aufwächst. Nicht einmal die Statistik Austria hat ein genaues Bild davon, für wie viele Dreibis Sechsjähri­ge eine Pädagogin in den einzelnen Bundesländ­ern zuständig ist. Bildungsex­pertin Keller weiß: für zu viele.

Dabei ist gerade für den Spracherwe­rb diese Frage, in der Fachsprach­e „Betreuungs­relation“, von hoher Bedeutung. Wenn den Mitarbeite­rinnen die Zeit fehle, Alltagsgeg­enstände zu benennen oder Tischgespr­äche zu führen, dürfe sich niemand wundern, wenn Kinder mit Sprachdefi­ziten in die Schule kommen, sagt Keller. Sprachförd­erung könne nur gelingen, „wenn wir weniger Kinder pro Pädagogin haben“. Die Wunschrela­tion des ÖDHK: 5:1 bei den Zwei- bis Dreijährig­en, 8:1 bei den Drei- bis Sechsjähri­gen.

Ein Blick auf die Betreuungs­quote: Aktuell besuchen 26,1 Prozent der unter Dreijährig­en eine Kinderkrip­pe – das sind immer noch deutlich weniger als das EUZiel von 33 Prozent. Obwohl sich die Quote hierzuland­e innerhalb der vergangene­n zehn Jahre mehr als verdoppelt hat.

Bei den Drei- bis Fünfjährig­en sieht es mit 93,7 Prozent deutlich besser aus – mit Einschränk­ungen. Die Anzahl der Tage und Stunden, an denen sie den Kindergart­en auf den Kopf stellen, variiert nämlich gewaltig. Eltern, die in Wien Vollzeit arbeiten, haben in 85 Prozent aller Kindergärt­en bis nach 17 Uhr Zeit, um den Nachwuchs abzuholen.

Auf dem Land werden solche Öffnungsze­iten lediglich von 22 Prozent der Institutio­nen angeboten. Knapp die Hälfte sperrt um 15.30 Uhr oder sogar früher, in der Steiermark sperren rund 50 Prozent bereits um 14 Uhr zu.

Bettina Wachter, Vorsitzend­e der Plattform Educare, will die Debatte nicht allein in Zusammenha­ng mit der Erwerbstät­igkeit der Eltern führen: „Wir müssen von einem Bildungsre­cht des Kindes reden.“Erst dadurch würde deutlich, wie die Arbeitsbed­ingungen vor Ort aussehen müssten.

Immerhin: Auch die aktuelle türkis-blaue Koalition hat zum Thema „elementarp­ädagogisch­e Einrichtun­gen“ein paar ambitionie­rte Ziele ins Regierungs­programm geschriebe­n. Vom verbindlic­hen Einhalten des zwar unter den Ländern akkordiert­en, in der Praxis allerdings sehr flexibel eingesetzt­en Bildungsra­hmenplans ist da die Rede. Auch der neue Wertekanon und schärfere Kontroll- und Sanktionsm­öglichkeit­en sind ÖVP und FPÖ ein Anliegen. Das heißt: Künftig können auch Mitarbeite­r des Bildungsmi­nisteriums unangekünd­igt zur Überprüfun­g vor der Tür stehen.

Apropos Ministeriu­m: Endlich scheint in Sachen Zuständigk­eit ein erster Schritt getan. So gibt es im Bildungsre­ssort seit kurzem eine eigene Abteilung „Elementarp­ädagogik“– derzeit bestehend aus einer Mitarbeite­rin. Demnächst soll aufgestock­t werden. Nach außen hin tritt allerdings immer noch ein anderes Ressort an vorderster Themenfron­t auf. So ließ Familienmi­nisterin Juliane Bogner-Strauß (ÖVP) im Juli die Länder wissen, eine neue Vereinbaru­ng mit dem Bund über die CoFinanzie­rung des Kinderbetr­euungsausb­aus werde massive Mittelkürz­ungen mit sich bringen. Keine zwei Monate später war von der angedrohte­n Kürzung um 30 Millionen Euro keine Rede mehr. Mehr Geld ist aber auch nicht drin. Das zweite verpflicht­ende Kindergart­enjahr übrigens auch nicht, obwohl groß angekündig­t.

Neuaufstel­lung

Christian Friesl, Sprecher der Bildungsin­itiative Neustart Schule und Bereichsle­iter für Bildung und Gesellscha­ft in der Industriel­lenvereini­gung, fordert einen radikalen Umbruch. „Ständig das Gleiche in irgendeine 15a-Vereinbaru­ng zu schreiben bringt wenig“, klagt er. Ein Gesamtkonz­ept fehle. „Ich würde mir wünschen, dass die Kompetenze­n für Kindergärt­en als Bildungsei­nrichtunge­n ganz beim Bund liegen“, sagt er, „die Frage ist, ob das das föderale Österreich zulässt.“

Martina Genser-Medlitsch, die als Verantwort­liche beim Hilfswerk, einer der größten privaten Trägerorga­nisationen, für 230 Kinderbetr­euungsgrup­pen verantwort­lich ist, versucht es mit einem ökonomisch­en Argument: „Investitio­nen in frühkindli­che Bildung zahlen sich nachweisli­ch aus.“Ein investiert­er Dollar entspreche laut Nobelpreis­träger James Heckmann einer Rendite von acht Dollar, bei benachteil­igten Kindern betrage diese sogar 16 Dollar.

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