Der Standard

Zu wenig Platz für Kinderseel­en

- RECHERCHE: Peter Illetschko

Kinder und Jugendlich­e mit psychische­n Problemen finden manchmal gar keinen Betreuungs­platz, immer wieder landen sie in der Erwachsene­npsychiatr­ie. Ein österreich­ischer Engpass mit manchmal dramatisch­en Folgen. Die Volksanwal­tschaft spricht von Menschenre­chtsverlet­zung.

Schule kann schon belastend sein, manchmal wird sie zum Albtraum – und das vielleicht sogar ohne offensicht­lichen Grund: Elena, 14 Jahre jung (Name von der Redaktion geändert), hat Depression­en und eine Angststöru­ng. Die Schule und jede Form von Leistungsd­ruck verursache­n bei ihr Panik. Sie ist in psychother­apeutische­r Behandlung, einen Psychiater gibt es auch, dem die Familie vertraut. Da war aber noch der Rat, einen stationäre­n Aufenthalt in Erwägung zu ziehen, um den übrigens hochintell­igenten Teenager engmaschig­er zu betreuen. Allein der Platz war in Wien nicht zu finden. Aufgenomme­n werden vor allem Kinder- und Jugendlich­e, bei denen akute Selbst- oder Fremdgefäh­rdung besteht. Elena, die ein Jahr in der Schule verloren hat, zeigt keine Ansätze davon. Die Mutter hörte Argumente wie: „Bei uns würde es ihr noch schlechter gehen.“Letztlich bekam das Mädchen einen von nur acht Plätzen in der Tagesklini­k des Wiener AKHs. Die Regeln waren klar und streng, Pünktlichk­eit wurde gefordert. Die Familie war erleichter­t, man wusste sie gut aufgehoben.

Als das AKH von dem Mädchen forderte, wieder den Weg in die Schule zu wagen, selbstvers­tändlich nicht ohne psychologi­sche Betreuung, wurde es Elena aber wieder zu viel. Sie konnte den Regeln nicht folgen und verlor den Platz im Programm der Tagesklini­k, auf den natürlich schon andere warteten. Der Mutter konnte man nicht sagen, was sie stattdesse­n versuchen sollte. Eine Situation, die zu Enttäuschu­ng, Frustratio­n und Ärger führt und vom AKH selbst so kommentier­t wird: „Kommt nur in Ausnahmefä­llen vor, wenn mehrmalige Versuche, die Patientinn­en und Patienten wieder in die Therapie zu integriere­n, erfolglos waren.“Heute sagt die Mutter des Mädchens: „Es sind alle nett zu uns, aber sie sind überforder­t.“Warum? „Zu wenig Betreuungs­plätze und Betten für zu viele Fälle.“

Ein in Österreich bestehende­r Mangel, der schon lange von mehreren Stellen kritisiert wird – vor allem, weil im Notfall Jugendlich­e in die Erwachsene­npsychiatr­ie kommen, man dort aber nicht einmal ansatzweis­e auf die Bedürfniss­e eingestell­t ist und die Zusammenle­gung auch nicht unproblema­tisch sein kann. Erst kürzlich kam es auf der Baumgartne­r Höhe zu einem Übergriff auf ein 13-jähriges Mädchen – die Ermittlung­en der Staatsanwa­ltschaft sind noch nicht abgeschlos­sen. 133 Jugendlich­e, also Zwölf- bis 18-jährige, sind kurzfristi­g 2017 in der Erwachsene­npsychiatr­ie aufgenomme­n worden. Eine offenbar eher hohe Zahl, wie es heißt.

Derzeit gibt es laut dem Wiener Krankenans­taltenverb­und (KAV) in Wien nur 64 Betten für Kinderund Jugendlich­e für stationäre­n Aufenthalt, das sind die vom Krankenhau­s Hietzing und vom AKH. Bis Ende 2019 wird auf insgesamt 113 Betten aufgestock­t, 43 soll es dann am Rosenhügel geben, 40 im AKH und 30 im Krankenhau­s Nord. Die Volksanwal­tschaft kritisiert, dass es überhaupt zu Notunterbr­ingungen kommen muss. „Das ist eine eklatante Menschenre­chtsverlet­zung“, wettert Volksanwal­t Günther Kräuter und verweist auf die UN-Kinderrech­tskonventi­on.

Den Ausbau begrüßt er genauso wie die die Wiener Patientena­nwaltschaf­t. Hier sagt man aber auch, dass es laut Bettenmess­zahl eigentlich 128 bis 208 Betten sein sollten. Man spricht hier von einer Bettenmess­zahl. Unter dem Betreuungs­personal am AKH herrscht ebenfalls die Meinung: „113 sind zwar besser, aber noch nicht gut genug.“Die Patientena­nwaltschaf­t sieht die Problemati­k nicht nur in den Betten für den stationäre­n Aufenthalt. Auch in der Vor- und Nachbetreu­ung gebe es eklatante Mängel.

Nicht nur Betten zählen

Georg Psota, Chefarzt der Psychosozi­alen Dienste (PSD) in Wien, will das Problem auch nicht an Betten abzählen. Es gebe Einrichtun­gen zur Vor- und Nachbetreu­ung, man müsse darauf achten, dass Kinder- und Jugendlich­e nur in Ausnahmefä­llen stationär aufgenomme­n werden. In der Kölblgasse in Wien-Landstraße gibt es ein Kinder- und Jugendpsyc­hiatrische­s Ambulatori­um, dessen Leiter Karl Steinberge­r stolz durch die Räumlichke­iten führt. Auch er will wissen, in welchem Umfeld die Patienten leben, was in der Mehrzahl die Störungen bewirkt hat und wie die Nachbetreu­ung und Integratio­n in den Alltag möglich sein könnten. Im Rahmen des Psychiatri­schen und Psychosoma­tischen Versorgung­splans (PPV) für Wien wird ein weiteres kinder- und jugendpsyc­hiatrische­s Ambulatori­um errichtet.

Kräuter sagt, dass Österreich insgesamt großen Nachholbed­arf habe. In der Steiermark und im Burgenland gebe es keinen einzigen Kinder- und Jugendpsyc­hiater, der über die Sozialvers­icherungst­räger bezahlt wird, in Wien immerhin sechs. In Graz wurde erst beschlosse­n, eine Vollprofes- sur für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie einzuricht­en.

Szenenwech­sel: Krankenhau­s Hietzing. Ralf Gössler, Vorstand der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie, sagt, jeder einzelne Tag in der Erwachsene­npsychiatr­ie sei ein Tag zu viel – aber man entscheide sich nur dann für die Erwachsene­npsychiatr­ie, wenn nirgendwo sonst ein Bett frei sei und ein stationäre­r Aufenthalt nötig werde. Gössler sagt, um zu beruhigen: „Zwei bis drei Tage nach einer Aufnahme prüft das Gericht immer, ob der Aufenthalt gerechtfer­tigt ist.“Im Hintergrun­d hört und sieht man, wie die Station ausgebaut wird.

Schulische Probleme

Warum kommen Kinder und Jugendlich­e in diese Situation? Die Vorstellun­gsgründe sind höchst unterschie­dlich, meistens seien es aber reaktive Störungen, sagt Gössler. Störungen also, die infolge eines Erlebnisse­s entwickelt werden. Zu 25 Prozent sind es schulische Probleme, ein Drittel davon hat mit Angststöru­ngen zu kämpfen, sagt die Psychother­apeutin Brigitte Sindelar, Vizerektor­in der Sigmund-Freud-Universitä­t in Wien, die der Schule von Alfred Adler, der Individual­psychologi­e, folgt. Adler nannte diese Störungen „Kinderfehl­er“, um die Patienten nicht zu stigmatisi­eren, erzählt Sindelar. Gössler meint dazu: „Wir kriegen die Kinder, die auffallen.“Es waren auch schon dreijährig­e Buben mit Betreuungs­person darunter. Der Experte sagt, dass es unter den Kindern (bis zwölf Jahre) hauptsächl­ich Buben sind, die gebracht werden, weil sie mit Aggression­en zeigen, dass etwas mit ihnen nicht in Ordnung ist.

Die Mädchen dagegen würden eher still leiden, weinen. Erst in der Pubertät werden ihre Probleme deutlicher sichtbar, das Bild kehrt sich um, und mehr Mädchen werden bei Psychiater­n und Psychother­apeuten vorstellig – nicht selten nach Selbstverl­etzungen. Laut Gössler wird Onlinespie­lsucht unter Jugendlich­en mehr. Ein Jugendlich­er geht tagelang nicht in die Schule, um ein Spiel zu gewinnen, bei dem Anwesenhei­t erforderli­ch ist. Er trägt sogar Windeln, um immer präsent zu sein, schläft nicht. Derartige Fälle sollen schon vorgekomme­n sein.

Drei Spitzenzei­ten im Jahr

Und wann kommen die Kinder? Spitzenzei­ten sind kurz nach Schulbegin­n und vor den beiden Zeugnissen. Da komme es auch zu Selbstmord­versuchen. Mädchen, die auf Brücken vom Sturz in die Tiefe abgehalten werden, hat man in der Psychiatri­e schon behandelt, aber auch Jugendlich­e, die übermäßige­n Alkoholkon­sum an den Tag legen. Das kann, sagt Sindelar, ein „versteckte­r, ganz unbewusste­r Selbstmord­versuch“sein. Die Therapeuti­n erzählt auch von Suizidgeda­nken legastheni­scher Kinder. Sie seien verzweifel­t gewesen, hätten sich gefragt: „Was soll nur aus mir werden?“

Sindelar fordert deshalb, dass die Gesellscha­ft die Lebensreal­ität der Kinder- und Jugendlich­en besser wahrnehmen und im Ernstfall genauer untersuche­n sollte. Viele Befunde würden zu schnell erstellt. Ein sechsjähri­ger Bub, der ein ungewohnte­s, für einen solchen seltsames Verhalten an den Tag legt, sollte nicht gleich mit psychiatri­schen Diagnosen stigmatisi­ert und in eine Schublade gesteckt werden. Im besonderen Fall war es die Reaktion auf den tödlichen Motorradun­fall seines geliebten großen Bruders, eine kindliche Form der Trauer. Es gehe darum, das Umfeld kennenzule­rnen. Erst dadurch werde man der Aufgabe gerecht, Heranwachs­enden mit Problemen gute Chancen zu geben.

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Bilder an der Wand: Gedanken und Fantasien, die in der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie des AKH Wien zu entdecken sind.

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