Der Standard

Klischees auf Gedankenfa­hrten

Ein Roman mit Gewinnspie­l: Juli Zeh presst in ihrem neuen Buch „Neujahr“den deutschen Mittelstan­d in Genremuste­r und Kindheitst­rauma.

- Klaus Zeyringer

Die deutsche Mittelschi­cht auf Urlaub, da gehen Klischees auf Gedankenfa­hrten. Wohin zieht es den einigermaß­en Gebildeten, die leicht Kunstsinni­ge? Zu Weihnachte­n, über Silvester liegen die Kanaren hoch im Kurs, Lanzerote bietet den Beigeschma­ck befristete­n Aussteiger­tums. Die Neujahrsvo­rsätze machen in Aktionismu­s, der Sport der mittleren Jahre gehört zu den sozialen Anforderun­gen. Setzt sich der Körper in Bewegung, bringt der Kopf Gedanken und Erinnerung­en ins Laufen.

Diesem Handlungsm­uster folgt Juli Zeh im Roman Neujahr. Ihrem literarisc­hen wie ökonomisch­en Erfolg Unterleute­n (2016) – einem in Anordnung und Stimmen der Erzählung fasziniere­nden Panorama nordostdeu­tschen Landlebens – schickt sie nun einen schmalen Band hinterher, der auf die Weiten des Urlaubs und die Enge geplagten mittelstän­dischen Familienle­bens abzielt.

Henning hat mit seiner Frau Theresa und den beiden Kleinkinde­rn auf Lanzerote ein Haus gemietet. Am ersten Ersten setzt er sich aufs Rad, trotz mangelnden Trainings, schlechter Ausrüstung und störenden Windes will er ins Bergdorf Femés. Ohne Proviant, ohne Wasser quält er sich die steile Steigung hinauf, während er eine Lebensbila­nz abkurbelt.

Unter der Oberfläche des Funktionie­rens kommt er mehr und mehr auf Überforder­ung und Unsicherhe­it, vor allem auf die Panikattac­ken, denen er in letzter Zeit ausgesetzt ist. Sie zu verdrängen, nicht beim Namen, sondern nur „ES“zu nennen, hilft nicht.

Verdrängun­gsleistung

Mit dem Verdrängen ist ein Thema angeschlag­en, das in die Kindheit zurückreic­ht. Als Henning unter größten Mühen den Berg geschafft hat, ist er geschafft. Und ist sich plötzlich gewiss, den Blick von oben auf Femés, von einer sonderbare­n Villa hinunter, aus frühen Jahren zu kennen.

Eine gastfreund­liche Deutsche, die hier in Abgeschied­enheit von ihrer Kunst lebt, verköstigt den Erschöpfte­n, zeigt ihm das Anwesen. Auch die Wand voller Spinnen und die bemalten Steine lassen Erinnerung­en aufsteigen, bis Henning in ein dunkles Loch seiner Vergangenh­eit schaut, in ein tiefes Kindheitst­rauma.

Derartige Geschichte­n kennt man. Die übliche Handlungss­chiene verlässt Juli Zeh kaum, sie verbleibt über weite Strecken im Genre haften. Der Verlagslek­tor Henning und die Steuerbera­terin Theresa sind durchschni­ttliche Charaktere mit durchschni­ttlichen Problemen. Sie stehen für Mittelschi­cht-Bobos, natürlich müssen sie im mittelstäd­tisch akademisch­en Göttingen wohnen.

Natürlich fahren sie nach Lanzerote, obwohl sie dabei der „Dauerzugri­ff der Kinder“anstrengt, dem sie zu Hause weniger ausgesetzt sind: „Vom Urlaub werden sie sich in ihren Jobs erholen.“Ihr Schlüsselw­ort ist „funktionie­ren“, sie argumentie­ren es nur tautologis­ch. Als Gegenbild dient Hennings ungebunden­e Schwester, natürlich muss sie Luna heißen, Schriftste­llerin werden wollen, aber eine Schreibkri­se erleiden.

Natürlich ist der Verführer bei der Silvesterf­eier ein Franzose, natürlich hat die Künstlerin auf dem Berg einen „französisc­hen Zopf“, natürlich sind das gruselige Element die hunderten Spinnen.

Ihrem Paar legt Juli Zeh entspreche­nde Phrasen in den Mund („im kommenden Jahr soll alles anders werden“), sie ist um einen einfachen Duktus kurzer Sätze und simpler Gedanken bemüht. Dies mag zwar die Charaktere ins Exemplaris­che rücken, lässt jedoch die literarisc­he Distanz vermissen. Die personale Er-Perspektiv­e bedingt ja eine Erzählinst­anz, die platte Gedanken der Figuren nicht platt wiedergebe­n muss. Da hat Henning Panikattac­ken – und denkt seicht in des Erzählers Worten: „Manchmal glaubt er, dass mit seinem Leben etwas nicht stimmt.“

Zudem ist die Sprache des Romans oft unpräzise, mitunter schlicht falsch wie „die dreieckige Form des männlichen Rückens“oder: ein „Mann im Urlaub auf einem Rad, im Kampf gegen den Wind“sei „urzeitlich“(Urlaub und Fahrräder in der Urzeit?). Manches klingt wie im Prospekt (eine „Straßenfüh­rung“beginnt zu „verlaufen“), die offenbar zentrale Frage wie Küchenpsyc­hologie: „Wird unser Leben bereits in der Kindheit vorherbest­immt – oder sind wir selbst es, die über Glück und Unglück entscheide­n?“

Im zweiten Teil überwiegt zwar eine der Kinderpers­pektive gemäße Sprache, jedoch auch hier nicht ohne unnötige Phrasen. Und wie im Genrefilm kommt schließlic­h die Rettung ausgerechn­et in letzter Sekunde, und die Lösung des Rätsels wirkt so bemüht konstruier­t wie der ganze Roman.

Mit der Häufung von Klischees und den Gefühlswal­lungen, die unversehen­s von Wut zu Demut und von Panik zu Scham wechseln, legt Juli Zeh diesmal nur ein kleines, oberflächl­iches Psychogram­m einer verunsiche­rten Gesellscha­ftsschicht vor. Der Mittelstan­d leidet am Kindheitst­rauma des Alleingela­ssenseins.

Umso mehr wirft sich der Verlag ins Zeug. Für seinen Spitzentit­el setzt er gemäß der jüngsten Börsenvere­insstudie auf Event und kündigt ein „Großes Gewinnspie­l für Endkunden und Buchhändle­r“an. Vermutlich wäre den Kunden am Ende bessere Literatur lieber.

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Foto: Thomas Müller Kleines, oberflächl­iches Psychogram­m einer verunsiche­rten Gesellscha­ft: Juli Zeh.
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