Der Standard

Die Stadt mit Neubau entsiegeln

Wie Begrünung nicht trotz, sondern wegen neuer Bauprojekt­e gelingt

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Wien – „Es wird unerträgli­ch.“– Der deutsche Stadtplane­r Martin Berchtold fand kürzlich bei einer Veranstalt­ung zum Thema „Die Stadt im Klimawande­l“klare Worte für die Zukunft der Städte, wenn planerisch nicht mehr passiert. „Die Materialie­n der Stadt heizen sich auf, speichern die Wärme und geben sie nachts ab, das Resultat ist starke Überhitzun­g“, so der Experte, der internatio­nal klimaangep­asste Stadtentwi­cklung betreibt.

Der heurige Frühling war laut Daten der ZAMG der zweitwärms­te in der Messgeschi­chte und lag zwei Grad über dem Mittel. Im April wurde erstmals die 30-GradMarke erreicht. Der Klimawande­l ist nicht zu leugnen, die Konsequenz­en der zunehmende­n Hitzetage hautnah in der Stadt spürbar. Fakt ist, dass die Dichte an temporär extremen Wettersitu­ationen zunimmt, darüber waren sich die Teilnehmer der Diskussion, organisier­t von der Internatio­nalen Bauausstel­lung Wien (IBA Wien) und dem Futurelab der TU Wien, vergangene Woche einig.

Das Szenario betrifft das Gros der Menschheit: Das Bevölkerun­gswachstum wird dafür sorgen, dass 2050 rund 80 Prozent der Weltbevölk­erung in Städten leben werden. Zeit, intensiv die Bauweise in Städten zu überdenken, um das Leben in ihnen erträglich zu machen.

Renaturier­ung der Stadt

„Was heute gebaut wird, wird im Jahr 2100 noch stehen. Daher müssen wir gut überlegen, wie und was wir heute bauen“, so Bernhard Scharf von der Boku, der mit seinem Kompetenzz­entrum Green4Citi­es ein Planungsto­ol entwickelt hat, um Begrünbark­eit, Effizienz und Kosten von Bauvorhabe­n zu simulieren. Denn die Anzahl der Wüstentage werde sich verdoppeln, Wien wandere mit seinen Temperatur­en gen Süden, vergleichb­ar mit Neapel. Die Stadt ist zwar mit ihrem Urban-HeatIsland­s-Strategiep­lan und Vorzeigepr­ojekten wie der Biotope-City, die derzeit auf den ehemaligen Coca-Cola-Gründen gebaut wird, vorn mit dabei, was das Bewusstsei­n betrifft, und auch Begrünungs­techniken sind vorhanden. Erst vor kurzem wurde etwa die Initiative „Anpassung an den Klimawande­l“unter Leitung von Paul Oblak der Stadtbaudi­rektion Wien gestartet. Derzeit ist man noch am Sammeln von Maßnahmen und Strategien, um dabei „Kostenwahr­heit hineinzubr­ingen“.

Aus Fehlern zu lernen sei auch gut, meinte die bekannte deutsch-niederländ­ische Stadtplane­rin Helga Fassbinder, denn anderswo fange man jetzt wieder von vorne an bei Projekten, die einst Vorbilder waren. Dennoch ticken Vorschrift­en und Regelwerke anders, gab die Vorsitzend­e der Stiftung Biotope-City und Chefredakt­eurin des gleichnami­gen Onlinejour­nals zu bedenken. Sie ist überzeugt, dass eine Renaturier­ung der Stadt möglich ist. Ihr Konzept: „Entsiegelu­ng durch dichten Neubau.“Von der von ihr und dem 2016 verstorben­en Architekte­n Harry Glück initiierte­n Biotope-City, die wissenscha­ftlich von der Boku begleitet wird, verspricht sie sich eine Bauanleitu­ng für die grüne Stadt der Zukunft.

Blattgrün als Methode

Laut Scharfs Planungsto­ol, das etwa Klima, Wasser und Kosten bewertet, kommt man auf dem über fünf Hektar großen Areal auf Kosten von 38 Euro pro Quadratmet­er Begrünung, was er für überschaub­ar hält. Auch die Pflegekost­en mit etwas mehr als zwei Euro pro Quadratmet­er seien moderat, weil die Begrünung größtentei­ls den privaten Wohneinhei­ten zugeordnet sei.

„Blattgrün ist die effiziente­ste und kostengüns­tigste Methode“, so Fassbinder, die von technische­n Lösungen wie Klimaanlag­en wenig hält. Der Mensch müsse vom hohen Ross steigen und die regenerati­ven Mechanisme­n der Natur nutzen. Die Klimaeffiz­ienz von grünen Bauten sei jetzt auch wissenscha­ftlich bewiesen, was 2002, als sie ihr Konzept erstmals in den Niederland­en vorstellte, noch nicht der Fall war.

Außerdem bedürfe es einer neuen Formenspra­che der Architektu­r. Denn selbst im „Arch Daily“-Newsletter, also jenem der weltweit meistbesuc­hten Architektu­rwebsite, kämen immer noch oft Bauten mit kahlen Fassaden und Glas vor. (adem)

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