Verliebte und andere dressierte Exoten
Auf dem Filmfestival von Toronto suchen alle die Höhepunkte des Kinoherbstes. Heuer mit dabei: der Österreicher Markus Schleinzer. Auch Barry Jenkins, Steve McQueen und Claire Denis überzeugten.
Wer auf dem Filmfestival von Toronto Wind in die Segel bekommt, gelangt damit ein gutes Stück voran. Auf der Großveranstaltung werden die Weichen für die „award season“gestellt, die im Februar in der Oscarnacht gipfelt. Die Höhepunkte des nächsten Halbjahres werden aber nicht durch einen Wettbewerb bestimmt, sondern durch eine eher informelle Mischung aus Filmkritik und Marktgeschrei.
Alfonso Cuaróns Familiendrama Roma, bereits in Venedig hochdekoriert, hat in Toronto jedenfalls seine Führungsrolle bestätigen können. Eine der mit Spannung erwarteten Weltpremieren war If Beale Street Could Talk von Barry Jenkins. Der USFilmemacher hatte hier vor zwei Jahren den Grundstein für seinen Erfolg mit Moonlight gelegt.
Dass Jenkins nun James Baldwin verfilmt, den US-Autor, dessen Stimme gerade wieder mehr Gehör findet, passt ins Bild. Und tatsächlich, es wurde der feinnervige Film, den man sich erhofft hat. If Beale Street Could Talk will dem Roman gerecht werden, Jen- kins folgt ihm bis in einzelne Szenen und Dialogzeilen hinein. Zugleich setzt er mit der Geschichte um die rehäugige Tish (KiKi Layne) und ihren Geliebten Fonny (Stephan James), die im New York der 1970er-Jahre durch ein rassistisches Justizsystem hart geprüft werden, aber auch seine Erkundung afroamerikanischer Lebenswirklichkeiten stimmig fort.
Gefühliger, aber auch gedämpft optimistischer als im schwermütig gebrochenen Moonlight. Jenkins feiert die Schönheit seiner jungen, strahlenden Darsteller, je- der Augenaufschlag hat Bedeutung. Der romantische Nachdruck, das In-den-Farben-Schwelgen sind betörend. Die Wunden, das Leid und die Demütigungen, die Schwarze im Alltag erfahren müssen, bleiben dabei aber trotzdem präsent. Man wird sehen, ob der ein wenig aus der Zeit gefallene Film noch sein Momentum findet. Neben Jenkins waren es vor allem die Premieren von Steve McQueen und Claire Denis, mit denen das Festival seine Bedeutung unterstrichen hat. Beide Filmschaffende bewegen sich auf ungewohntem Terrain, dest auf den ersten Blick.
McQueen hat mit Widows erstmals einen Genrefilm realisiert, basierend auf einer britischen TVSerie aus den frühen 1980er-Jahren. Er interessiert sich nicht nur für das Schaustück des Heist-Movie, den Coup, sondern vor allem für die Figuren, die vier Witwen einer Gangster-Crew, die nun selbst aktiv werden. McQueens pointiert-kraftvolle Inszenierung und die famose Besetzung bereiten Vergnügen. Viola Davis gibt die resolute Anführerin der Frauenpartie, die Australierin Elizabeth Debicki trickst betörend an ihrer Seite. Robert Duvall und Colin Farrell sind als korruptes Vater-Sohn-Gespann zu erleben. zumin-
Neues Genre für Claire Denis
Radikaler als McQueen verleibt sich die Französin Claire Denis in High Life ein neues Genre ein. Mit Robert Pattinson in der Hauptrolle entwirft der Film eine hypnotische Fabel um eine Raumschiffcrew, die aus lauter verurteilten Verbrechern besteht.
Denis geht es vor allem darum zu zeigen, wie diese Menschen fernab der Erde an ihre existenziellen Grenzen stoßen. Die stille Nachdenklichkeit des Films, die nur momentan durch Gewalt (oder Sex) unterbrochen wird, erinnert mehr an Andrei Tarkowskis legendäre Stanisław-Lem-Verfilmung Solaris oder Douglas Trumbulls Space-Oper Silent Running.
Faszinierend physisches Kino bot auch der New Yorker Filmemacher Alex Ross Perry (Golden Exits). Nach Natalie Portman in Brady Corbets Popstarallegorie Vox Lux verkörpert nun auch Elizabeth Moss eine Musikerin – mehr im Stile eines Riot Grrrl der 1990er-Jahre. Moss erzählte in Toronto, dass sie sich an Courtney Love, aber auch an Marilyn Monroe orientiert habe. In drei Kapiteln führt Her Smell quasi in Echtzeit den drogenbedingten Verfall seine Hauptfigur vor – ein Trip, der durch die angstlose Darstellerin intensiv nachwirkt.
Schleinzers kluger Film
Eine historische Variante von Starruhm hat der Österreicher Markus Schleinzer in seinem Film Angelo im Visier. Ausgehend vom Fall Angelo Soliman, einem Afrikaner, der es im Wien des 18. Jahrhunderts zum Kammerdiener und Gesellschafter des Kaisers brachte, hat er einen klugen und äußerst rigide inszenierten Film über die Lust an der Exotik, koloniales Denken und Projektionsflächen gedreht.
Angelo, der als Knabe nach Europa „eingekauft“wird, ist „der Andere“, zugleich einer von vielen: ein Mensch als dressiertes Tier, an dessen Fähigkeiten man sich erfreut, der aber keine Bedürfnisse entwickeln soll. Schleinzers Film erzählt von falscher Toleranz, von einem Rassismus, der in kultureller Kolonisierung besteht. In einer der besten Szenen setzt man Angelo einen anderen Schwarzen gegenüber, damit er jemanden zum Reden hat. Was darauf folgt, ist Schweigen. Die Reise wurde vom Filmfestival Toronto unterstützt.