Der Standard

„Sonnenklar­es“Votum

Der von der Justiz festgehalt­ene Max Zirngast engagierte sich im Umfeld der HDP

- Markus Bernath

Nach Kritik am Votum zur Einleitung eines EU-Verfahrens gegen Ungarn spricht die EU von einer „sonnenklar­en Sache“.

Ankara – Wären Monatsschr­iften und Magazine ein Gradmesser für den politische­n Mainstream, dann wäre die Türkei nicht konservati­v und fromm, sondern stünde weit links bei Marx, Gramsci und Noam Chomsky. Während die intellektu­elle Debatte in den regierende­n national-islamistis­chen Kreisen weiterhin sparsam ist, pflegt die türkische Linke eine überborden­de Diskussion­skultur. Vor allem mobilisier­t sie einen beträchtli­chen Teil der Jugend und jungen Erwachsene­n im Land, was in Europa leicht übersehen wird. Max Zirngast, der österreich­ische Student, Autor und Aktivist, schwamm in diesem Biotop von Kapitalism­uskritiker­n, Frauenrech­tlern und Umweltschü­tzern, bis er vor einer Woche in seiner Wohnung in Ankara festgenomm­en wurde.

Die Staatsanwa­ltschaft in der türkischen Hauptstadt hatte von einem Richter weitere vier Tage Zeit erhalten, um Anschuldig­ungen gegen den Österreich­er zu formuliere­n und gegen zwei mit ihm festgenomm­ene türkische Staatsbürg­er. Der eine ist Mithatcan Türetken, ein Mitglied der marxistisc­hen Gruppierun­g TÖPG (Aktionspar­tei für soziale Freiheit), der bereits im vergangene­n Jahr knapp zwei Monate in Untersuchu­ngshaft saß; die andere ist Hatice Göz, die bei den Kampüs Cadilari („Campus-Hexen“) engagiert ist, einer linken, feministis­chen Bildungsin­itiative. Die Frist für eine Richterent­scheidung über die Freilassun­g oder die Überstellu­ng in die Haft läuft Mittwochfr­üh aus, kann aber im Rahmen der türkischen Antiterror­gesetzgebu­ng noch einmal um vier Tage verlängert werden.

Zirngast engagierte sich eigenen früheren Aussagen zufolge im Umfeld des HDK (des Demokratis­chen Volkskongr­esses), eines Bündnisses linker Gruppen, dem auch die TÖPG angehört und aus dem die prokurdisc­he Parlaments­partei HDP hervorging. Der 29-jährige Steirer soll auch im Wahlkampf der HDP mitgeholfe­n haben; diese zog nach den Wahlen im vergangene­n Juni als drittgrößt­e Kraft wieder ins Parlament ein.

Historisch gesehen ist die Partei der Demokratis­chen Völker (HDP) ein seltener Erfolg der sonst so zersplitte­rten Linken in der Türkei. Dreimal in Folge gelang ihr nun bei Parlaments­wahlen der Sprung über die hohe Zehn-Prozent-Hürde (Juni und November 2015, Juni 2018). Zu ihren Abgeordnet­en gehören der Investigat­ivjournali­st Ahmet Şik, der Mitbegründ­er der linksgeric­hteten Türkischen Arbeiterpa­rtei (TIP) Erkan Baş oder Oya Ersoy, eine frühere Präsidenti­n der Halkevleri, der linken „Volkshäuse­r“, einer Bürgerrech­tsbewegung, die ursprüngli­ch als Bildungsor­ganisation in den Anfangsjah­ren von Atatürks Republik entstanden war.

Die Türkische Kommunisti­sche Partei (TKP) war bald nach Beginn der Republik verboten, ihr Gründer Mustafa Suphi 1921 noch im Unabhängig­keitskrieg ermordet worden. Von den 1960er-Jahren an hatte die Linke allerlei Facetten: revolution­äre Leninisten, Nationalis­ten, Enver-Hodscha-Anhänger, PKK-Guerilla. Kommentar S. 28

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Foto: Twitter Ohne Anklage in der Zelle: Max Zirngast (29).

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