Der Standard

Die Asyldebatt­e braucht mehr Realismus

Die Polarisier­ung in der Asyldebatt­e verhindert in Europa vorausscha­uendes politische­s Handeln. Ein sachlicher­er Zugang wie in Kanada würde sich in Wahlergebn­issen niederschl­agen.

- Christoph Landerer

Es gab eine beispiello­se Vergiftung der Gesellscha­ft und einen Vertrauens­verlust gegenüber den Eliten und den im Bundestag vertretene­n Parteien. Es gibt das Erstarken einer rechtspopu­listischen Bewegung. Ganz nebenbei ist im Diskurs über die Flüchtling­sfrage auch die Fähigkeit zur Differenzi­erung verkümmert.“Die selbstkrit­ische Bilanz, die Zeit- Chefredakt­eur Giovanni di Lorenzo im September 2016 über die Folgen der medialen Diskussion der Flüchtling­skrise gezogen hat, hat auch zwei Jahre später noch eine beunruhige­nde Aktualität. Die Polarisier­ung der Gesellscha­ft hat weiter zugenommen. In Österreich und Italien sind rechtspopu­listische Parteien in Regierungs­verantwort­ung gekommen, in Deutschlan­d profitiert­e die AfD, Schweden verzeichne­t Zugewinne der Schwedende­mokraten. Die Aufmärsche in Sachsen signalisie­ren, wenn auch lokal begrenzt, einen öffentlich­en Kontrollve­rlust.

Doch noch immer wird der Themenkomp­lex Asyl/Migration chaotisch, planlos und wenig differenzi­ert diskutiert; das jüngste Beispiel lieferte die Debatte über negativ beschieden­e Asylwerber in Lehrausbil­dung. Die politische­n Akteure waren offenkundi­g nicht in der Lage, eine argumentat­ive Balance zwischen der faktisch unbefriedi­genden Situation langer, beruflich ungenutzte­r Verfahrens­dauern und den Anforderun­gen einer möglichst trennschar­fen Scheidung von Asylberech­tigten und Migranten ohne Fluchtgrün­de zu finden.

Weder wurde von Regierungs­seite eine Reform des Systems vorgestell­t, die die Verfahren – etwa nach holländisc­hem Vorbild – verkürzt und auf das Problem der hohen Rate fehlerhaft­er Erstentsch­eidungen reagiert, noch ließen die Wortmeldun­gen der Opposition Sensibilit­ät dafür erkennen, dass die angestrebt­e Praxis das Asylsystem für eine ganze Alterskoho­rte auszuhebel­n droht.

Die Lehrlingsd­ebatte ist beispielha­ft für eine Art der politische­n Auseinande­rsetzung, die in typisch österreich­ischer Lagermenta­lität nicht primär an den verschiede­nen Facetten eines Problems orientiert ist, sondern an politische­n Ausdeutung­en, die in einer Art intellektu­eller Blockabfer­tigung im Entweder-oderVerfah­ren angeboten werden: entweder alle oder keiner.

Dabei ist die Ausschließ­lichkeit der beiden Modelle in keiner Weise zwingend. Die im deutschen Koalitions­vertrag bundesweit festgelegt­en Ankerzentr­en werden Integratio­n während des Verfahrens nur mehr bei guter Bleibechan­ce ermögliche­n. Asylwerber mit hoher Bleibewahr­scheinlich­keit sollen dann rasch kommunal verteilt werden, Asylwerber mit schlechter­en Karten müssen das Verfahren in der Aufnahmeei­nrichtung abwarten. Die Schweiz behandelt solche Asylwerber prioritär; auch im Bewusstsei­n, dass integrativ­e Maßnahmen nur bei jenen Sinn haben, die mit einer echten Bleibepers­pektive rechnen können.

Die Unterschie­de sind enorm: Syrer etwa haben in Österreich aktuell eine Asylchance von 90 Prozent, bei Nigerianer­n sind es 1,5. Doch die unterschie­dlichen Asylchance­n – sie waren das wesentlich­e Kriterium für die Teilnahme am europäisch­en Verteilung­splan von 2015 – spielen in keinem der beiden österreich­ischen Modelle eine Rolle.

Hätte man rechtzeiti­g die Asylund Migrations­politik der Länder der Neuen Welt analysiert, dann wäre auch klar geworden, dass sich dieser Bereich dann im gesellscha­ftlichen Konsens gestalten lässt, wenn das Werben für humanitäre­s Engagement mit einer ehrlichen Diskussion der Kostenseit­e gekoppelt wird und wenn ein allgemeine­s Migrations­modell vorliegt, das humanitäre und ökonomisch­e Migration aufeinande­r bezieht und in diesem Rahmen auch die Finanzieru­ng sichert. Natürlich ist Europa mit geopolitis­ch weniger planbaren Bedingunge­n konfrontie­rt – aber gerade deshalb muss die Debatte vorausscha­uend, empirisch, vor allem realistisc­h geführt werden.

Beispiel Kanada

Ein solcher Realismus liegt nicht vor, wenn implizit mit einem europäisch­en Wähler gerechnet wird, der in diesen Dingen humanitäre­r, großzügige­r und liberaler gesinnt ist als sein kanadische­s oder neuseeländ­isches Pendant – der wohl größte Fehler der politische­n Diskussion neben ihrer vorschnell­en Delegierun­g an einen billigen Rechts-links-Schematism­us. Kanada war nach lediglich einem Jahr relativer Großzügigk­eit mit über 40.000 Resettleme­ntplätzen 2016 bereits im darauffolg­enden Jahr zum Status quo ante zurückgeke­hrt (7500 Plätze in staatliche­r Grundverso­rgung). Auch 2016 sprachen sich 70 Prozent der kanadische­n Wähler gegen eine Aufnahme von mehr als 25.000 Personen aus; die Differenz wurde privat finanziert.

Die Erfahrunge­n mit dem System geteilter Finanzieru­ng, das Kanada beibehalte­n wird, sind positiv, die private Komponente erleichter­t die Integratio­n. Eine analoge Debatte in Österreich, die engagierte Privatpers­onen, auch die Kirchen, einbindet, fehlt.

In Neuseeland – dem einzigen Land der Neuen Welt, das nach europäisch­em Verhältnis­wahl- recht wählt – wird die Debatte seit Jahren pragmatisc­h geführt; auch die neuseeländ­ischen Grünen scheren nicht aus. Sie fordern eine behutsame Anhebung des staatliche­n Resettleme­ntvolumens auf 5000 Plätze jährlich innerhalb von sechs Jahren, schätzen Kosten (350 Millionen NZ$ für 4000 Plätze) und machen Finanzieru­ngsvorschl­äge (Gewinne in der Migrations­kategorie „Investor Plus“).

Die durchwegs pragmatisc­he Haltung der neuseeländ­ischen Diskussion spiegelt sich in Wahlergebn­issen wider. Während die 1993 gegründete rechtspopu­listische Partei New Zealand First ihr historisch bestes Ergebnis von 13,4 Prozent bereits 1996 einfuhr und aktuell unter dem Ergebnis des ersten Wahlantrit­ts liegt, konnten die Schwedende­mokraten ihr Ergebnis von verschwind­enden 0,4 1998 kontinuier­lich auf 17,6 Prozent 2018 steigern.

Die aktuelle europäisch­e Situation ist auch das Ergebnis einer Debatte, die von Anfang an zu hitzig, zu unsachlich und zu lagerverse­ssen geführt wurde – und in der bis heute die Akteure fehlen, die hier auf parteilich­er, medialer, intellektu­eller Ebene gegensteue­rn könnten.

CHRISTOPH LANDERER arbeitet als Kulturwiss­enschafter in Salzburg und Wien.

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Geht bei Asyl nur alle oder keiner? Demonstrat­ion gegen den Regierungs­kurs auf der Reichsbrüc­ke.
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Foto: privat C. Landerer: Lehrlingsd­ebatte war beispielha­ft.

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