Zukunftschancen statt Kulturkampf
Die für die Schulen in Wien Verantwortlichen müssten sich einer tabulosen öffentlichen Diskussion über die Integrationsproblematik stellen. Wird das geschehen? Es ist zu befürchten: nein.
Ein Buch wie das der mutigen Hauptschullehrerin (heute: Neue-Mittelschule-Lehrerin) Susanne Wiesinger, „Kulturkampf im Klassenzimmer“, war überfällig. Für die kleine Gruppe derer, die sich für die Situation an Schulen mit hohem Schüleranteil aus muslimischen Ländern interessierten und mit dortigen Lehrkräften in Kontakt kamen, bringt das Buch inhaltlich wenig Überraschendes. In der breiten Öffentlichkeit müsste es wie ein Blitz einschlagen, vergleichbar den Vorkommnissen in der Silvesternacht 2015/16 in Köln.
Umso mehr, als das Buch unglaublich authentisch wirkt und meisterhaft die persönliche Betroffenheit der Autorin mit erfahrungsbasierten Überlegungen grundsätzlicher Natur und konkreten Anregungen für Verbesserungen verbindet.
Brennpunktschule
Das Bild, das Wiesinger von einer Brennpunktschule in WienFavoriten zeichnet, hängt nicht nur mit der Flüchtlingskrise zusammen, sondern ist das Ergebnis einer über Jahrzehnte hinweg versäumten und verfehlten Integrationspolitik in europäischen Großstädten und leider auch in Wien. Die Schulen sind in besonderem Maße Spiegelbilder dessen, was man früher unscharf „Ausländerpolitik“genannt hat und was heute unter „Integrationspolitik“für Menschen mit Migrationshintergrund läuft.
Und die Schulen zeigen leider, dass auch viele Zuwanderer der zweiten und dritten Generation noch ernsthafte Integrationsmängel aufweisen, hauptsächlich in muslimischen Milieus mangels jeglicher familiärer Anreize.
Das offensichtlichste Versäumnis der Politik war die Zulassung hoher Migrantenkonzentrationen in Stadtbereichen mit Substandardwohnraum. Das brachte zusätzlich Probleme für die betroffenen ärmeren einheimischen Bevölkerungsschichten. Dieser Personenkreis erfuhr die „Ausländerproblematik“unmittelbar und dreifach: in ihrem Wohnumfeld, am Arbeitsplatz und in der Schule ihrer Kinder.
Arbeiterpartei FPÖ
So wurde die FPÖ zur Arbeiterpartei, mit oder ohne braune Ränder. Und so baute sich in dieser Bevölkerungsgruppe schleichend Ausländerfeindlichkeit auf, es kam zur Spaltung der Stadtbevölkerung in „Gut- und Bösmenschen“, besonders augenschein- lich in der SPÖ-Anhängerschaft. Erst die Krise 2015/16 hat wegen der riesigen Zahl ankommender Flüchtlinge das öffentliche Bewusstsein für die Problematik geschaffen und die inneren Widersprüche, vor allem in der SPÖ, zutage gebracht. Quantität schuf eine neue Qualität.
Gut- und Bösmenschen
Diese Spaltung in Wiens führender Partei mag auch ein wesentliches Motiv dafür gewesen sein, dramatische Entwicklungen in den früheren Hauptschulen mit „Deckel draufhalten“um jeden Preis, auch auf Kosten des Lehrpersonals und der Minderheit der Schüler mit deutscher Muttersprache, zu beantworten. Das geschah in Form weitgehenden Wegschauens, exzessiven Entgegenkommens an integrationsun- willige Muslime und deren Institutionen sowie der Schaffung von Schweigemauern und Intransparenz. Die Problematik verschärfte sich in einem Teufelskreis, da Eltern von Kindern deutscher Muttersprache immer weniger bereit waren, diese in Problemschulen zu schicken, und lieber erhebliche private Nachhilfe- bzw. Schulgeldkosten in Kauf nahmen.
Wie geht es nach der Veröffentlichung des Buches von Susanne Wiesinger weiter? Vorerst ist zu hoffen, dass das Buch breite Unterstützung durch die Lehrerkollegenschaft und die verantwortungsvollen Medien erhält, inklusive etwaig notwendiger Klarstellungen und Korrekturen. Dies könnte über die aktuelle Islamfrage hinaus zu einer Emanzipation der Lehrkräfte überleiten, die eine der Voraussetzungen für das Gelingen von Schulreformen im Sinne weitgehender Schulautonomie darstellt.
Die in Wien für Schulfragen Verantwortlichen und/oder politisch Einflussreichen müssten sich einer tabulosen öffentlichen Diskussion über die schulische Integrationsproblematik und Abhilfemaßnahmen stellen. Der neue Bürgermeister könnte diese Wende wohl leichter bewerkstelligen als sein Vorgänger.
Weichen neu stellen
Natürlich wäre in einer (relativ kleinen) Großstadt wie Wien eine gleichmäßigere Verteilung von Schülern über mehrere Schulen zumutbar; natürlich könnten muslimische Eltern durch neue Tatbestände von Verwaltungsvergehen und daran anschließende Verwaltungsstrafen oder Diversionen unter Druck gesetzt werden, sich an allgemeine Regeln zu halten; natürlich können entsprechend geschulte und psychisch robuste Lehrerteams mit voller Unterstützung ihrer Vorgesetztenhierarchien für einen ordnungsgemäß ablaufenden Unterricht sorgen und so weiter.
Interne SPÖ-Konflikte
Realistischer scheint leider ein anderes Szenario, nämlich das der brutalen politischen Abrechnung mit der Rathausmehrheit, einer stärkeren Einbunkerung der verantwortlichen Personen und Institutionen in Wien, vermehrter innerer Konflikte in der SPÖ und eines weiteren Reformstillstands in der Schulpolitik. Und der bedeutet eine unverantwortliche Beraubung ihrer eigenen Zukunft für eine gar nicht so kleine Zahl junger Menschen, eine fortgesetzte Vergeudung menschlichen Kapitals für die Wirtschaft und auf längere Sicht eine Gefährdung der sozialen Stabilität.
ERHARD FÜRST (Jahrgang 1942) ist Jurist und Ökonom. Er war Forscher am Institut für Höhere Studien, Mitarbeiter des Internationalen Währungsfonds in Washington und Chefökonom der Industriellenvereinigung.