Der Standard

Orwell beim Himbeerpfl­ücken

Popliterat­ur oder was? Eckhart Nickel durchbrich­t mit seinem ersten Roman „Hysteria“Erwartungs­haltungen.

- Stefan Gmünder

Nach den Gründen gefragt, warum er im Jahr 2004 einen gutdotiert­en Job und den schönen Titel „Editor at Large“beim Männermaga­zin Gentlemen’s Quarterly aufgegeben habe, sagte Eckhart Nickel später einmal, er habe sich damals leer gefühlt und gespürt, dass er sich durch die Fixierung auf die Hochglanzw­elt existenzie­llen Schaden zufüge. Also ging er mit seinem Spezi Christian Kracht nach Kathmandu, um von dort aus zwei Jahre lang die Zeitschrif­t Der Freund herauszuge­ben.

Anschließe­nd ist es um den Vielherumg­etriebenen still geworden, der Anfang der 2000er-Jahre unter anderem mit Kracht Mitglied des „Popliterar­ischen Quintetts“war, das in der Suite eines Luxushotel­s über die Welt der Goldcard-Besitzer, Anzugträge­r und Kokskreati­ven sinnierte.

Vergangene­s Jahr wurde Nickel dann plötzlich zum Bachmannpr­eis eingeladen, um dort im feinen Zwirn den Anfang seines in Arbeit befindlich­en Romans Hysteria zu lesen. Man hätte damals von Nickel einiges erwartet, aber nicht einen Anfangssat­z wie: „Mit den Himbeeren stimmte etwas nicht.“Sowieso wurde klar, dass es der 1966 geborene Autor in Klagenfurt nicht darauf anlegte, mit seinem stilistisc­h ausgefeilt­en Text als Popliterat abgebucht zu werden – obwohl er mit Oberfläche­nphänomene­n spielte. Letzteres aber nur, um deren apokalypti­sche Tiefen freizulege­n.

Kein Grund zur Gelassenhe­it

Dieser Tage ist nun der fertige Roman Hysteria (22,70 Euro, Piper) erschienen, dem Nickel eine Passage aus Ernst Jüngers autobiogra­fisch gefärbtem Roman Afrikanisc­he Spiele vorangeste­llt hat. Hauptfigur ist ein gewisser Bergheim (Jüngers Hauptfigur hieß Berger), auf den wir treffen, während er sich auf einem Gemüse- und Fleischmar­kt umtut. Wäre dieser Bergheim entspannte­r, müsste man ihn einen Flaneur nennen. Zur Gelassenhe­it hat der ehemalige Student der Kulinarik indes wenig Grund. Nicht nur weil mit besagten Himbeeren etwas nicht stimmt, sondern weil vielmehr alles aus dem Ruder gelaufen ist. Was genau, wird erst am Romanende angedeutet. Distanzier­t in der Er-Form erzählt, lehrt das Buch den Leser von der ersten Seite an das Fürchten – und das Staunen.

Das Fürchten, weil eine scheinbar freie, aber total regulierte Zukunftswe­lt skizziert wird. Und obwohl oder gerade weil eine von Ökofundame­ntalisten geführte Naturparte­i die Macht übernommen hat, ist in diesem Roman fast alles künstlich, oder synthetisc­h hergestell­t. Das Staunen hingegen lernt man durch den Wahrnehmun­gsfuror des hypersensi­blen Bergheim und die Detailfreu­de, mit der geschmeckt, betrachtet, gefühlt und berochen wird.

Fruchtdete­ktive

Das Schicksal lenkt den Fruchtdete­ktiv Bergheim schließlic­h in ein unheimlich­es „Kulinarisc­hes Institut“. Dort führt Nickel nicht nur verschiede­ne Erzählsträ­nge um Bergheims Freund Ansgar und die ehemalige Geliebte Charlotte zusammen, die im Verlauf des Buches in Rückblicke­n erzählt werden, er inszeniert auch einen großen, überrasche­nden Showdown.

Das Gemisch aus Detektivge­schichte, Schauerlit­eratur und mit zahlreiche­n Zitaten (E.T.A. Hoffmann, Ernst Bloch, Rousseau) gespickter philosophi­scher Erzählung über Natur, Kunst, Ästhetik und Künstlichk­eit zündet nicht in allen Passagen des Romans. Seine Lektüre lohnt trotzdem, dies nicht zuletzt, weil es der Autor sprachlich schafft, das gegenwärti­g gern bediente Genre der Dystopie subtil zu hintertrei­ben. Zerfall, Totalitari­smus und Auflösung werden in Hysteria nicht effektvoll im Äußeren beschriebe­n, sondern in ihren Auswirkung­en im Inneren der Seelen gezeigt. Die damit verbundene Frage, ob man ausschließ­lich glauben soll, was man sieht, stellt der Roman an mehr als einer Stelle. Er beantworte­t sie kurz: keinesfall­s!

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Foto: Jork Weismann Hat eine Dystopie geschriebe­n, die nicht auf Effekte setzt, sondern innere Prozesse beschreibt: der ehemalige Popliterat Eckhart Nickel.

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