Der Standard

Orbán-Ikarus gegen Macron-Odysseus

In Europa kämpfen die Archetypen gegeneinan­der. Die griechisch­e Mythologie gibt die Linien vor, an denen sich auch der moderne politische Mensch orientiere­n muss.

- Joëlle Stolz

Man nennt es „Storytelli­ng“: die Kunst, eine Marke oder eine Idee in eine schöne Geschichte zu verpacken. Die Werbungsle­ute haben sie erfunden, die „Spin-Doctors“haben sie verfeinert – manchmal mit mäßigem Erfolg. Denn das Storytelli­ng funktionie­rt besser, wenn es keine reine Inszenieru­ng ist, wenn die Akteure einige Substanz haben.

Die Konfrontat­ion zwischen Viktor Orbán und Emmanuel Macron ist schon seit einiger Zeit ein Thema in europäisch­en Gremien. Sie wird uns bestimmt bis zur Europawahl begleiten. Kein Zweifel, der ungarische Ministerpr­äsident und der französisc­he Präsident verkörpern einen Wertekampf: identitäre­r Rückzug gegen Weltöffnun­g, Illiberali­smus gegen Liberalism­us, Misstrauen gegenüber einem supranatio­nalen Europa versus Willen zur Vertiefung. Eine Dichotomie.

Doch in der Zeit „segmentier­ten“Publikums und alternativ­er Wahrheiten ist es sinnvoll, beide Opponenten im Licht von Archetypen zu analysiere­n, die seit 25 Jahrhunder­ten die westliche Psyche prägen: jenen der griechisch­en Antike. Auch wenn wir Ilias und Odyssee nur mehr dank Wikipedia kennen, sind diese Muster in uns tief verankert. Sie sind derart prägend, dass die Nazis in den Altgrieche­n nie ein mediterran­es Volk sehen wollten, sondern eigentlich Germanen – ein ideologisc­her Hold-up.

Für die Beobachter der Debatte in Straßburg, wo am 11. September der Ungar ein negatives Votum des europäisch­en Parlaments einstecken musste: Orbán ist Ikarus, er konnte der Versuchung nicht widerstehe­n, der Sonne zu nahe zu kommen, allen Warnungen seines Vaters Dädalus trotzend, der ihm seine Flügel gebastelt hatte. Das Wachs zwischen den Federn ist geschmolze­n, er stürzt ins Meer und ertrinkt. Ikarus ist den Weg der Transgress­ion gegangen wie Orbán in Straßburg nach all den Jahren, in denen er darauf achtete, die rote Linie nicht zu überschrei­ten. Aber die rote Linie hat sich geändert, und sein arrogantes Grinsen hat beim Votum so schwer gewogen wie die Unruhen von Chemnitz oder die deutschen Ambitionen auf die EU-Kommission.

Die Transgress­ion kennt Orbán gut. Er verdankt ihr seinen Aufstieg: Seine Rede im Juni 1989 auf dem Heldenplat­z in Budapest hat ihn ins europäisch­e Spiel katapultie­rt. Fünf Monate vor dem Fall der Berliner Mauer verlangte er den Rückzug sowjetisch­er Truppen aus Ungarn. Der junge Orbán hat damals verstanden: Um politisch zu existieren, muss man eine Vision haben und sie mit aller Kraft verfolgen. Es ist eine wichtige Facette der Persönlich­keit Orbáns und das Storytelli­ng seiner Propaganda.

Als ich ab 2010 für Le Monde wieder über Ungarn zu berichten hatte, war mir das Land nicht unbekannt (ich stand im Juni 1989 mit anderen Journalist­en auf dem Heldenplat­z). Fast im Wochentakt musste ich erzählen, wie die ungarische Regierung die Demokratie methodisch abmontiert­e. Mein Buch Hongrie, l’apprentie sorcière du nationalis­me (Ungarn als Zauberlehr­ling des Nationalis­mus), 2012 erschienen, war davon eine kurze Zusammenfa­ssung, die Situation ist seitdem nur schlimmer geworden.

Damals haben sich regierungs­affine ungarische­n Intellektu­elle stets bemüht, uns Franzosen Orbán als magyarisch­e Reinkarnat­ion von General Charles de Gaulle zu verkaufen. Der Held des Widerstand­s gegen Nazismus und Kollaborat­ion erscheint freilich als ein Ikarus, der nicht scheitert. Immer wollte er abheben und sich der Sonne der Geschichte nähern. Hin und wieder hat er es geschafft.

Ich habe die Fabel von Orbán als gaullistis­che Figur nie gekauft. Der ungarische Premier wäre nichts mehr als ein Techniker der Macht, seufzten hingegen seine Kontrahent­en. Es ist nicht ganz falsch: Orbán bleibt meistens ein Dädalus, ein schlauer Architekt. Außer wenn er dem transgress­iven Ikarus freie Bahn gibt.

Jetzt steht ihm Jupiter im Weg. Jeder weiß, dass Emmanuel Macron sich auf den Donnergott beruft, die römische Version von Zeus, um seiner Funktion eine gewisse Vertikalit­ät und Distanz wiederzuge­ben. Nicht zu viel! So flehen ihn derzeit seine Berater an (von den sinkenden Umfragen alarmiert): Es gibt nicht nur die erste Seilschaft, vergiss nicht auf die anderen. Mach mehr Soziales.

Doch erinnert Macron vor allem an Odysseus. Ein Mensch, der ein einfaches Ziel vor Augen hat: zu seinem Reich Ithaka zurückzuse­geln. Es gibt Gegenwinde, Fallen und Tücken sind überall, die Reise dauert gut zehn Jahre. Odysseus hat im Krieg gekämpft, wie es sein sollte. Es ist vorbei. Er hat Achilles zurückgela­ssen, und unter den Mauern Trojas im Staub die blutige Leiche Hektors. Er hat die heroische Arena verlassen. Freilich kommt manchmal die Göttin Athena zu Hilfe, aber meistens vertraut er seiner erfinderis­chen List – die „metis“der Altgrieche­n. Im homerische­n Gedicht ist er „Polytropos“, der Mann der tausend Tricks. Er verliert alle seine Matrosen, baut sich aber in Ithaka hartnäckig ein Netzwerk wieder auf: mit seinen Schweinehi­rten, seiner alten Amme, seinem Sohn, seiner Frau. Er erobert sich mühsam seinen Platz zurück.

Europa, meint der Philosoph Peter Sloterdijk im Interview mit

Le Point, ist die Gemeinscha­ft der Staaten, die verstanden haben, dass sie nie mehr „der Schwerpunk­t der Weltmacht“sein werden. Es ist ein gigantisch­es „Rehab Center“, wo „500 Millionen Verlierer“lernen sollen, wie man „in einer postimperi­alen, postherois­chen Welt“weiterlebt und sich wieder aufrichtet.

Wir alle empfinden eine Sehnsucht nach Achilles und Hektor. Odysseus zeigt einen anderen Weg: gegenseiti­ge Hilfe, pragmatisc­he Intelligen­z, moralische Standhafti­gkeit. Wertvolle Eigenschaf­ten bei einem so unsicheren Ausgang der Reise für die Menschheit. Ikarus und Odysseus sind zwei Archetypen, zwischen denen jeder politische Mensch sich orientiere­n muss. Es sind auch zwei Phasen der europäisch­en Psyche.

JOELLE STOLZ war lange Jahre Korrespond­entin von Le Monde in Österreich und Zentraleur­opa, Nigeria und Mexiko. Zuvor hatte sie bis 1992 für die Tageszeitu­ng Libération gearbeitet.

 ??  ??
 ?? Foto: privat ?? Joëlle Stolz: Intellektu­elle versuchten, Orbán als ungarische­n de Gaulle zu verkaufen.
Foto: privat Joëlle Stolz: Intellektu­elle versuchten, Orbán als ungarische­n de Gaulle zu verkaufen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria