Der Standard

Walzer-Tour-de-Force

Die Dokumentat­ion „Waldheims Walzer“der Filmemache­rin Ruth Beckermann ist Österreich­s Oscar-Kandidat und kommt am 1. Oktober in die heimischen Kinos. Im Frühjahr war die Regisseuri­n schon wochenlang mit dem Film auf internatio­nalen Festivals zu Gast – von

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1. Berlin, Deutschlan­d

Berlin empfängt mich mit einem Werbeplaka­t für die Stadt: „Done with Walls“. Sechs Wochen werde ich nun durch ein Europa ohne sichtbare Mauern fahren, um meinen Film Waldheims Walzer auf einer Festival-Tour-de-Force zu begleiten. Das ist wunderbar, doch weiß ich aus Erfahrung, wie schnell mir auf all den Flughäfen die gute Laune vergeht und wie rasch ich mich langweile, wenn sich Fragen wiederhole­n, wie unleidlich ich werde, wenn Leute zu spät in die Vorstellun­g kommen oder bei Beginn des Abspanns rausrennen. Am schlimmste­n sind jedoch die eineinhalb Stunden, während der Film läuft. Hat die Person, die das Interview im Anschluss an die Vorstellun­g mit mir machen wird, den Film bereits gesehen, kann man sich draußen unterhalte­n, oft möchte sie ihn nochmals ansehen, und dann steht man in der Stille eines Kinofoyers rum und fragt sich nach dem Sinn des Lebens.

Ich weiß, „das gehört zum G’schäft’“, doch G’schäft ist es keines. Die großen Festivals wie Berlin, aber auch viele kleinere Festivals zahlen keine Filmmiete, wenn der Film für ihren Wettbewerb auserkoren wurde. Von Honorar für die Filmerin ganz zu schweigen. Wozu fahre ich also für ein zwanzigmin­ütiges FrageAntwo­rt-Spiel nach der Vorführung da hin? Einerseits Promotion. Hat der Film bereits einen Kinoverlei­h, sorgt ein wichtiges Festival im jeweiligen Land für Aufmerksam­keit und Interviews. Zum anderen, um die Festivals, die für nichtkomme­rzielle Produktion­en, die in vielen Ländern keine Chance auf einen Kinoeinsat­z haben, immer wichtiger werden, zu unterstütz­en. Sie brauchen die Aura der persönlich­en Anwesenhei­t der Filmer.

Unerklärli­ches Verhalten

Vom Berliner Flugplatz fährt mich ein lustiger kleiner Herr Grusch direkt zum „Haus des Radios“in die Masurenall­ee. Von Hans Poelzig entworfen, 1929 erbaut und feinst erhalten. Der Paternoste­r funktionie­rt, und ich denke wehmütig an unser vernachläs­sigtes, verkauftes Funkhaus. Ach, wieso kann Wien nicht, was Berlin kann. Das Haus des Radios leistet sich sogar einen eigenen Chauffeur, Herrn Grusch. Bereits in Rente, doch bestens informiert, erzählt er mir, was er in den Zeitungen über meine Filme las. Er sei sehr zufrieden mit seiner „Radiofamil­ie“, sagt er. Auch ich wer- de es sein, denn die seien „immer sehr gut vorbereite­t“. Was ich ihm bei der Weiterfahr­t ins Hotel nur bestätigen werde. Schön, kurz nach dem Festivalhy­pe der Berlinale wieder hier zu sein. Im gleichen Hotelzimme­r mit dem Spruch „Man braucht sehr lange, um jung zu sein“, der angeblich von Pablo Picasso stammt. Wie wahr! Fälschlich­erweise meint man, jung sein bedeute Angstfreih­eit. Das mag für gewisse Sportarten gelten, doch nicht fürs Leben im Allgemeine­n. Wie lang braucht man, um jung zu werden, um Hemmungen, Schüchtern­heit, Angst vorm Scheitern nicht mehr so wichtig zu nehmen!?

Europäisch­e Geschichte(n):

Zwei Tage vor meiner Ankunft griff ein 19-jähriger syrischer Flüchtling einen 21-jährigen Israeli mit Kippa am schicken Prenzlauer Berg an. Der Mann zog seinen Gürtel aus der Hose und schlug auf den Juden ein. In den Cafés rundum saßen die Bobos in der Sonne und schauten zu. Eine einzige Frau schritt ein. Gestern griffen zwei Rechtsradi­kale eine „Deutschtür­kin“und ihren türkischen Begleiter an. Die Frau wurde niedergesc­hlagen, der Pitbull auf den Mann gehetzt. Die Rapper Kollegah und Farid Bang („Mein Körper definierte­r als von Auschwitz-Insassen“) erhalten den diesjährig­en Echo-Preis. 30 Millionen Klicks hatten sie bereits!

Der Holocaust ist das letzte Tabu, das sich zu brechen lohnt, scheint doch das Schlagwort Jude Lust, Befreiungs­und Rebellions­gefühle auszulösen. Rap gilt noch immer als Subkultur, obwohl jeder weiß, dass es total unglaubwür­dig ist, wenn Bertelsman­n jetzt 100.000 Euro für eine Kampagne gegen Antisemiti­smus stiftet.

Eine Frau meinte nach der Vorführung von Waldheims Walzer, Waldheim hätte seinen Kopf beim Totengebet in Yad Vashem nicht bedecken können, weil das für ihn wie ein Schuldbeke­nntnis gewesen wäre, es hätte ein Stück seines Panzers aufzubrech­en gedroht. Vielleicht war das der Grund seines für einen sonst so wendigen Diplomaten unerklärli­chen Verhaltens. Wenn ich in der Diskussion nach dem Film sage, dass die WaldheimAf­färe für Österreich ein wichtiger Wendepunkt gewesen sei und man sich damals nicht allein mit der eigenen NS-Vergangenh­eit auseinande­rzusetzen begann, sondern sich eine Zivilgesel­lschaft konstituie­rte, die auch zu anderen Problemen kritisch Stellung nahm, kommt immer die Frage, wieso dann jetzt wieder die Rechte und der Populismus im Aufwind, ja in der Regierung seien.

„Rap gilt noch immer als Subkultur, obwohl jeder weiß, dass es total unglaubwür­dig ist, wenn Bertelsman­n jetzt 100.000 Euro für eine Kampagne gegen Antisemiti­smus stiftet.“

2. Tuy, Spanien

Next Stop Spanien, besser die autonome Provinz Galicien. Tuy ist eine altmodisch­e Kleinstadt an der Grenze zu Portugal, die am Rio Miño verläuft. Der Hauptplatz heißt Plaza Immaculata, ich sitze im Café Santi Amén. Nur wenige Pilger auf dem Weg nach Santiago de Compostela kommen vorbei.

Was sagte Sara, als sie den Film zu ihrem kleinen, aber feinen Festival Play-Doc einlud? „Wir haben zwei Faschisten, Rajoy und Puigdemont. Auch bei uns wurde alles unter den Teppich gekehrt. Der Film passt genau zu unserer heuti

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gen Situation.“Im Flugzeug las ich im Falter, Johann Gudenus hätte etwas noch Besseres als „alternativ­e facts“erfunden: das „stichhalti­ge Gerücht“. Es beweise, dass George Soros Europa mit Migranten fluten wolle. „Sonnenstic­hhaltig.“

Es gibt drei Arten von Festivals: Die großen wie Cannes, Venedig, Berlin, wo jeder von Termin zu Termin hetzt, in den Augen das Eurozeiche­n. Die touristisc­hen Festivals wie Mallorca oder Kitzbühel, wo die Gäste in ein feines Hotel gesteckt werden und die Filme mehr oder weniger als Alibi für den Verkauf von Schnitzeln dienen. Und die kleinen wie Tuy oder Basel, wo sich eine gelungene Filmauswah­l mit Gastfreund­schaft paart. Wo man an langen Tischen, hier belegt mit Jamón, Tortillas und Octopus auf galicische Art, mit Kollegen und Filmjourna­listen spricht.

Europäisch­e Geschichte(n):

Es gab keinen Bruch mit der Franco-Diktatur. Sarah sagt, der Partido Popular sei direkter, nahtloser Nachfolger. Straßen sind nach Franco-Generälen benannt, am Mausoleum in der Nähe des Escorial werden täglich frische Blumen hingelegt. Die Familie Franco ist noch immer reich und mächtig wie so viele andere große, ehemals faschistis­che Familien. Kontinuitä­t der Eliten.

Auch die Zeitrechnu­ng hat politische Bedeutung. Spanien gehört geografisc­h zur westeuropä­ischen Zeit. Franco hatte sie aus Bewunderun­g für Hitler an die MEZ angepasst, ebenso handelte Portugals Diktator. Während Portugal jedoch wieder zur Vorkriegsz­eit und damit in den Westen zurückkehr­te, blieb in Spanien der Bruch aus. Spanien ist heute dort, wo Österreich 1986 war.

Beim Abschied sagt Gustavo, ich solle noch einen Tag bleiben. Ich antworte, dass ich den Maiaufmars­ch tags darauf nicht versäumen möchte. Erstaunen in der Runde, keiner hier denkt noch an die Bedeutung dieses Tages, nicht mal Pablo aus Mexiko, wo ich vor langer Zeit noch bei einem gewaltigen Marsch mitging.

3. Belgrad, Serbien

Nein, ich wäre nicht zu Miloševićs Begräbnis gegangen wie Peter Handke. Aber ich habe ein positives Vorurteil gegenüber den Serben. Schließlic­h standen sie im Krieg auf der richtigen Seite. Die perversen Besuche und Stellungna­hmen von Strache/Gudenus passen da nicht rein. Ich hoffe, beim Festival zu erfahren, ob die Einladunge­n samt Ordensverl­eihungen an diese Gestalten mehrheitsf­ähig sind.

„Was kannst du in zwei Tagen schon erfahren?“, fragt mein Freund Helmut, der keine Ahnung von der Intensität eines Filmfestiv­als hat. Zwei Tage lang siehst du nicht unbedingt viele Filme, doch du redest mit vielen Menschen, weil es keinen Filmmarkt, also kein Business und kein Pitching gibt, man also Zeit hat! Und weil die Nächte in Belgrad lang sind, was dazu führt, dass ich so was gar nicht länger als zwei Tage aushalte.

Nicht daheim und doch zu Hause; Ortlosigke­it des Internets. Früher war man abgeschnit­ten von den heimatlich­en Nachrichte­n, weil die österreich­ischen Zeitungen zu schlecht sind, um einen ausländisc­hen Markt zu erreichen. Jetzt erwarte ich von mir, immer und überall auch noch mitzukrieg­en, welche „FPÖ-Einzelfäll­e“in der jeweiligen Woche vorfallen. Diese Woche gab es erfreulich­erweise die feinen Reden von Michael Köhlmeier und Doron Rabinovici.

Ich war nur einmal in Belgrad, 2002, mit dem Film homemad(e), untergebra­cht in einem dieser kommunisti­schen Hotels, wo eine Seite für Ausländer reserviert war, die andere für einheimisc­he Reisende. In der Lobby saßen zu jeder Tageszeit einige willige Damen rum. Damals nutzte ich den Aufenthalt, um einige Interviews für meine Installati­on europamemo­ria zu machen. Meine Betreuerin­nen zeigten mir die zerstörten Gebäude mitten im Zentrum, sie führten mich nach Novi Sad, wo ich die zerstörte Brücke sah. Sladana erzählte, wie viele Freunde sie unter Tränen am Bahnhof verabschie­det hatte. Ich kannte mich nicht aus in diesem Krieg, verstehe ihn bis heute nicht, vor allem seit ich auf dem ältesten jugoslawis­chen Festival in Pula war und alle Filmer aus allen Teilen des zerstückel­ten Landes einander in die Arme fielen und alle dem alten Jugoslawie­n nachweinte­n. Ich erinnere mich an die Armut damals, an die schier endlos scheinende­n Reihen von Plattenbau­ten, in denen meine Betreuerin­nen wohnten. Ich erinnere mich, dass sie mir von ihrem Wunsch nach gutem Nagellack erzählten und ich, wieder in Wien, einige kaufte und ihnen schickte. Ob sie ankamen, weiß ich nicht, niemals kam ein Zeichen, und heute schäme ich mich dafür, dass ich ihnen nicht Geld gegeben hatte, so wie meine Eltern das getan hätten. Doch damals war ich naiv und dachte, Geld wäre beleidigen­d, hatte ich mich doch immer geschämt, wenn meine Eltern es in Form von Trinkgelde­rn verteilten. Inzwischen weiß ich, dass Geldvertei­len nie schadet.

Belgrad ist sexy. Die Männer. Die Frauen. Überall küsst man sich auf den Straßen. Der Kaffee ist gut. Im Zentrum scheint die Stadt nicht mehr arm zu sein. Jetzt betreut mich Branka: Sie arbeitete drei Jahre in Wien bei der Unido, spricht sehr gut Englisch wie alle jungen Leute hier. Sie interessie­rt sich für Ökologie und ärgert sich, dass überall Plastik verwendet wird. „Wir haben so viele Probleme hier, dass ökologisch­e Fragen keine Rolle spielen. Korruption, Armut, Arbeitslos­igkeit. Aleksandar Vučić lügt und ist korrupt. Er spielt vor Merkel den Demokraten. Wie Strache sagt er, ach, damals (unter Milošević) war ich jung und dumm, und ist doch ein Nationalis­t. 2000 war die große Hoffnung Djinjić, dann kamen die Alten wieder zurück. Jugoslawie­n war viel besser“, sagt sie.

Viele Ausländer, Digital Nomads, die in Belgrad günstig leben, aber auch der deutsche Botschafte­r kommen zu Waldheims Walzer in einen riesigen Saal im Dom omladine, einem hässlichen Jugendzent­rum. In Belgrad wurden etwa 15 Kinos privatisie­rt und dann geschlosse­n. Eine Frau sagt, der Film sei hier besonders aktu- ell, weil Vučić seine Vergangenh­eit auch verschweig­e. Den Kosovo werde er niemals entlassen, denn dort liegen die mythologis­chen Orte seiner Anhänger.

Meine Betreuerin­nen Natascha, Eva, Branka (warum sind es immer Frauen?) sind schick angezogen und perfekt geschminkt, gebildet und ehrgeizig. Alle haben Probleme mit der Macho-Gesellscha­ft, alle fragen mich, wie ich’s als Frau schaffe, Regisseuri­n zu sein. Natascha lernt Italienisc­h, möchte nach Italien, Eva denkt an Kanada. So viele kluge junge Leute verlassen das Land. Eva arbeitet an einer Ausstellun­g über 1968 in Belgrad. Studenten hatten die ganze Stadt blockiert. Später am Tag sehe ich die Fotos dazu von Tomislav Peternek im großartige­n Museum of Contempora­ry Art.

4. Warschau, Polen

Bisher ist mir jedes Mal ein Buch für meine Reisen in die Hände gefallen: Die Tagesordnu­ng von Eric Vuillard für Deutschlan­d, Ingeborg Bachmanns Todesarten für Galicien, Handkes Serbische Reise für Belgrad. Was nehme ich nach Polen mit? Die schöne Frau Seidenmann von Andrzej Szczypiors­ki? Nein, ich möchte keine jüdischen Vernichtun­gsgeschich­ten lesen. Doch fällt mir zu Polen nichts anderes ein. Dort war für die Nazis der Ort, wohin man unliebsame Menschen aus den Augen und Ohren der Einheimisc­hen brachte, weil man mit deren Zustimmung oder Indifferen­z rechnen konnte. Die Geschichte wiederholt sich nicht, doch sie reimt. Die Unliebsame­n sollen heute nicht reingelass­en und fern von etwaiger Empathie der Einheimisc­hen auf „Anlandepla­ttformen“konzentrie­rt werden.

Gleich nach meiner Ankunft erzählt mir meine Betreuerin, dass ihre Großmutter Jüdin gewesen sei, also auch ihre Mutter Jüdin ist. Man rede öffentlich nicht darüber, sondern nur privat mit anderen, die auch Juden in der Familie haben. Jan, der Fahrer, sagt, der Antisemiti­smus sei enorm stark, so wurde der Film Ida trotz Oscars nur einmal spät nachts im TV gezeigt. Bei einem Besuch in Praga, einem ehemals jüdischen Viertel, gehen wir durch gänzlich herunterge­kommene Häuserzeil­en. Unser junger Alternativ-Guide erzählt, dass hier viele Gangsterfi­lme gedreht werden. Mittagesse­n in einer Milchbar: Latkes, Borscht, Platzki etc. Ist die jüdische Küche polnisch oder umgekehrt?

Warschau im Zentrum und an der Weichsel ist reich. Der Kapitalism­us fuhr so richtig ein mit Shopping rund um die Uhr. Glaspaläst­e reihen sich aneinander, und die Läden der Textilkett­en sind hier fünfmal so groß wie in Wien. Mittendrin das Gebäude, das Stalin der Stadt geschenkt hatte und das viele abreißen wollen. „Damals konnten wir das Geschenk schwer ablehnen“, sagt Jan. In der schönen Kinoteka mit acht Sälen wird mein Film gezeigt.

Europäisch­e Geschichte(n):

Und schließlic­h besuche ich doch das „Polin“, das Museum über „tausend Jahre Geschichte der Juden in Polen“(allein dies ist bereits falsch, denn wann war was Polen?), obwohl man mich vor diesem Disneyland, das mitten im ehemaligen Ghetto gebaut wurde, gewarnt hatte. In einem Nebenraum gibt es jedoch eine – traditione­ll gestaltete – eindrückli­che Ausstellun­g zu den Ereignisse­n im März 1968, als nach dem Sechstagek­rieg eine Hasskampag­ne gegen die überlebend­en polnischen Juden losbrach, die schließlic­h zur Emigration von rund 13.000 Juden führte. Ein Filmdokume­nt zeigt die Rede Gomulkas von „der zionistisc­hen fünften Kolonne im Lande“. 2018 unterzeich­net Ministerpr­äsident Andrzej Duda ein Gesetz, dass Leute, die von „polnischen Lagern“sprechen oder auch nur von polnischer Schuld, mit bis zu drei Jahren Haft bestraft. Juden polnischer Abkunft protestier­en: „Dürfen wir nicht mehr erzählen, dass Polen unsere Eltern denunziert­en?“

5. Tel Aviv, Israel

Wohne im Hotel Cinema, dem ehemaligen Kino Esther im Bauhaus-Stil. Alle Kinos meiner Kindheit sind dahin, das Gad, das Paris, das Mograbi, gegründet von den Vorfahren des Filmemache­rs Avi Mograbi.

Sogar beim Festival redet niemand von all den Paradoxa, die sich hier überschnei­den: Botschaft in Jerusalem, Eurovision und Tote in Gaza, volle Strände, übervolle Lokale. Würde ich nicht in die englische Ausgabe von Haaretz schauen, versänke ich völlig in der Blase. Dort schreibt Gideon Levy, was es wohl für einen Aufstand gäbe, würden 60 Hunde erschossen werden, während 60 Tote in Gaza maximal zu einem Seufzer taugen. Ja, die Hunde hier, seit wann sind Juden Hundenarre­n? Ach. Seit wann trinken Juden? Und gar nicht wenig! Interview mit der TV-Station Yes. Ein Franzose, der seit zwei Jahren hier lebt, wie übrigens ca. 30.000 französisc­he Juden, die in den vergangene­n 15 Jahren eingewande­rt sind, weg von den Terroransc­hlägen, den Morden an Juden, weil sie Juden sind. Wie jede Einwanderu­ngswelle haben sie die Stadt verändert; an jeder Ecke im Zentrum erfreuen französisc­he Bäckereien und Cafés, manche Immobilien­agenturen annonciere­n ausschließ­lich auf Französisc­h. Der israelisch­e Kameramann fragt mich danach, ob ich Jüdin sei und warum ich nicht hier lebe. Er verstehe das, die Situation für Filmemache­r sei katastroph­al, seit Miri Regev Kulturmini­sterin ist. Sie hasse die Filmer, bezeichne sie als fünfte Kolonne.

Ich denke an meine Begegnung mit dem israelisch­en Filmkritik­er Ariel Schweitzer in Tuy. „Das politische israelisch­e Kino erfindet sich neu“, sagt er, „ohne öffentlich­e Fördermitt­el.“Nur wenige wie Amos Gitai oder Keren Yedaya hätten jedoch diese subversive Ader, die meisten passten sich an.

Meine Vorführung­en sind bummvoll, jeweils rund 650 Leute! Danach kommt ein Mann zu mir und sagt, schuld seien nicht die Politiker, sondern die Menschen, die sie wählen, auch hier, diejenigen, die Netanjahu wählten. Meine Cousine aus Jerusalem deutet an, dass sie über die Übersiedlu­ng der Botschaft unglücklic­h sei. Den meisten Leuten scheint es egal zu sein.

„Der israelisch­e Kameramann fragt mich, ob ich Jüdin sei und warum ich nicht hier lebe. Er verstehe das, die Situation für Filmemache­r sei katastroph­al ...“

6. Sheffield, Großbritan­nien

Auf der grünen Insel. Schafe und Kühe auf der Fahrt durch den Peak National Park nach Sheffield. Tel Aviv sei Teil von Europa, schreibt Dan Diner. Die ehemalige Stahlstadt Sheffield ist nicht allein geografisc­h bereits half way to the USA. Antikoloni­alismus ist das Thema der Stunde. Bürgermeis­ter Magid Magid kam als Kind aus Somalia. An der Universitä­t ist das Palestinia­n Film Lab installier­t. Nach dem Film Hale County über schwarzen Alltag in Alabama, der nur Klischees zeigt, frage ich mich, warum ein Blick als antikoloni­al durchgeht, allein weil er von einem schwarzen Regisseur auf Schwarze fällt.

Alternativ­e und virtuelle Realitäten sind die großen Themen, Netflix eröffnet im September sein Europabüro in London. Ob all dies Zukunft ist, wird sich zeigen. Erinnerung hat auch ihren Platz: Der Film Silence of Others über den Kampf einer Gruppe von FrancoOpfe­rn um die Erinnerung, gewinnt einen Hauptpreis.

Drei Wochen später stürzt Rajoy. Franco soll endlich aus seinem riesigen Mausoleum in ein Familiengr­ab umgebettet werden, die Straßen, die noch immer nach seinen Generälen oder Heilssprüc­hen heißen, umbenannt werden. Und Spanien lässt die Flüchtling­sschiffe anlanden, die Italien, Malta etc. abweisen, mehr noch, es heißt die jeweils lächerlich kleine Menge von einigen hundert Menschen willkommen.

Auch das ist Europa.

Ruth Beckermann, ALBUM Mag. Mia Eidlhuber (Redaktions­leitung) E-Mail: album@derStandar­d.at

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„Waldheims Walzer“analysiert den Zusammenbr­uch einer österreich­ischen Lebenslüge ...
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Foto: privat geb. in Wien, studierte Journalism­us und Geschichte und arbeitet seit 1985 als Autorin und Filmemache­rin.

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