Von Macht un ndn Ohnmacht
Zwei neue, gewichtige Bücher über Russland: Eines hat Yuri Slezkine verfasst, das andere stammt vom renommierten Yale-Historiker Timothy Snyder, der nächste Woche das Vienna Humanities Festival eröffnet.
In diesem Haus wohnte und arbeitete der sowjetische Flugzeugkonstrukteur und Held der sozialistischen Arbeit Artjom Iwanowitsch Mikojan“; „... die Heldin der sozialistischen Arbeit Lidija Aleksandrowna Fotijewa“;„... der sowjetische Feldmarschall Jakow Nikolajewitsch Fedorenko“; „... das Mitglied des Obersten Sowjet Klawdija Iwanowna Nikolajewa ...“
Und viele andere mehr. An den Hauswänden eines riesigen Wohnblocks mitten in Moskau, an der Moskwa gegenüber dem Kreml, erinnern Granittafeln an illustre Bewohner. Alle Moskowiten kennen „das Haus am Flussufer“. Es ist berühmt. Und es ist berüchtigt. Denn – was an den Hauswänden nicht zu lesen ist – zahllose Mitglieder der politischen, militärischen und kulturellen Eliten des Landes wurden hier in den späten 1930er-Jahren nächtens von der Geheimpolizei NKWD abgeholt und kehrten nicht wieder zurück – mehr als 800 von den damals rund 2700 Bewohnern. Fast die Hälfte von ihnen wurde erschossen, der Rest eingesperrt oder verbannt. Nirgendwo in der Sowjetunion war man während der „Säuberungen“gefährdeter als hier, in Sichtweite Stalins. Das Haus, dessen Bau der Diktator verfügt hatte, wurde zur Falle für viele, die es bewohnten.
Der 1956 in Moskau geborene, an der UC Berkeley lehrende Historiker Yuri Slezkine hat ein monumentales Werk vorgelegt, Das Haus der Regierung, das die Geschichte des Baus in eine „Saga des Bolschewismus“einbettet: das Gebäude als Brennglas, in dem sich die Hoffnungen und Verzweiflungen einer für die ganze Welt geplanten Revolution konzentrieren und brechen.
Slezkine teilt das umfassende Thema in drei „Bücher“auf. Im ersten stellt er die frühe Garde des Bolschewismus vor, junge Sozialrevolutionäre, die bereits lange vor 1917 in Cafés, Seminaren oder in der Verbannung über die philosophischen Fundamente einer neuen Zeit diskutierten. Er begleitet sie auf dem Weg zur Macht, vom St. Petersburger Winterpalais bis zum Kreml, und in die Enttäuschung darüber, dass die große Umwälzung im Wesentlichen auf die Sowjetunion beschränkt blieb.
Buch zwei beschreibt, wie sich die Nomenklatura im „Sozialismus in einem Land“einrichtete, bildlich und im neu gebauten Haus auch wörtlich. Während Zwang und unrealistische Pläne zu Misserfolgen und zu genozidalen Hungersnöten führten, arbeiteten die Planer in bürgerlichem Luxus mitsamt Sport- anlagen und einem, wie man heute sagen würde, Conciergeservice, von dem einfache Genossen nur träumen konnten.
Im dritten Teil dokumentiert Slezkine, wie Stalins Großer Terror das Haus der Regierung erreichte. In der exklusiven Idylle herrschten plötzlich Misstrauen, Angst – und Schweigen. Alle bangten, sie könnten die Nächsten sein. Was sie hofften und fürchteten, wie sie zwischen Zweifel, Zynismus und Glauben an die Weisheit der Partei schwankten, das vertrauten sie Tagebüchern und Briefen an, aus denen Slezkine minutiös zitiert.
Über die Russische Revolution und ihre Folgen haben viele Historiker, Politiker und Journalisten publiziert. Slezkine zeichnet aus, dass er, im Sinne der neuen Geschichtsschreibung, unterschiedliche Zugänge vereint und sie ergänzt. Über die „Familiensaga“, wie er sie selbst nennt, legt er einen analytischen Rahmen, mit dem das Buch überhaupt beginnt. In einem brillanten Kapitel analysiert er das Wesen von Religionen und kommt zu dem Schluss, dass die Bolschewiken eine millenaristische Sekte waren, die das Ende der gegenwärtigen Welt und ein irdisches Paradies noch zu Lebzeiten erwartete. Alle derartigen Sekten, schreibt Slezkine, „haben eines gemeinsam: Das Unausweichliche kommt nie. Die Welt endet nicht; der blaue Vogel kehrt nie zurück; die Liebe offenbart sich nicht in ihrer ganzen innigen Zärtlichkeit und wohlmeinenden Gesinnung; und Tod und Trauer und Weinen und Schmerz verschwinden nicht einfach. Bis heute hat sich keine der millenaristischen Prophezeiungen erfüllt.“
Ein besonderes Augenmerk widmet Slezkine der Literatur, die in den Haushalten am Flussufer