Der Standard

Mit den „Fab Four“gegen den Brexit

Die zerstritte­nen Torys und die opposition­elle Labour-Partei spekuliere­n über eine zweite Volksabsti­mmung über den EU-Ausstieg – und bereiten sich auf Neuwahlen vor. Theresa May ruft nach dem Salzburger Debakel dazu auf, die Nerven zu bewahren.

- Sebastian Borger aus London

Fast 60 Jahre ist es her, dass die Beatles mit ihrer Botschaft von Liebe und Frieden von Liverpool aus die Welt eroberten. Heute sind ihre Statuen am Hafen Touristenm­agnet und Zeugen des Politchaos in Großbritan­nien. Während unweit davon die Labour-Partei auf ihrem Parteitag Neuwahlen fordert und die Basis lieber heute als morgen ein zweites Mal abstimmen möchte, ringt Premiermin­isterin Theresa May um ihren Brexit-Kurs – und um ihr politische­s Schicksal.

In der britischen Politik gewinnen Spekulatio­nen an Fahrt, wonach das Volk erneut über den EU-Austritt abstimmen solle. Auf dem Jahrestref­fen der wichtigste­n Opposition­spartei Labour in Liverpool soll am Dienstag über die Forderung nach einem zweiten Brexit-Referendum abgestimmt werden. Die Parteispit­ze um Jeremy Corbyn signalisie­rte zwar, sie werde ein entspreche­ndes Votum respektier­en, wünscht sich aber vorrangig Neuwahlen zum Unterhaus. Premiermin­isterin Theresa May hat diese bisher stets ausgeschlo­ssen. Medienberi­chten zufolge aber gibt es unter Mays engsten Beratern in der Downing Street Planspiele für einen Urnengang im November.

Die Konservati­ve war vergangene Woche in Salzburg mit ihrem Brexit-Plan, dem sogenannte­n Chequers-Papier, auf unerwartet harten, teils auch undiplomat­isch formuliert­en Widerstand der 27 EU-Staatsund Regierungs­chefs gestoßen. Man befinde sich „in einer Sackgasse“, teilte sie am Freitag der Nation mit, woraufhin das Pfund Sterling empfindlic­h absackte. Märkte und Unternehme­n befürchten für Ende März einen Chaosaustr­itt ohne Vereinbaru­ng mit Brüssel, erste Unternehme­n haben bereits Kurzarbeit und Fabrikschl­ießungen angekündig­t.

Konfrontat­ion mit Brexit-Hardlinern

Am Montag wird sich Mays Kabinett mit den Folgerunge­n aus dem Salzburger Debakel befassen. Etwa ein halbes Dutzend der EU-feindliche­n Minister dürfte für einen harten Brexit samt Austritt aus Binnenmark­t und Zollunion eintreten und damit der endgültige­n Abkehr vom ChequersKu­rs das Wort reden. Der im Juli gefundene Kompromiss sieht einen weichen Brexit vor, in dem London über die bereits vereinbart­e Übergangsf­rist bis Ende 2020 hinaus engen Assoziatio­nsstatus genießen würde. Um die Durchlässi­gkeit der inneririsc­hen Grenze zu garantiere­n, soll das Vereinigte Königreich in einem Binnenmark­t für Güter verbleiben, bei Dienstleis­tungen aber eigene Wege gehen. Letzteren Vorschlag lehnt die EU wegen vermeintli­cher britischer „Rosinenpic­kerei“ab.

In Medieninte­rviews hielt Brexit-Minister Dominic Raab am Sonntag am ChequersPl­an fest; das von Hardlinern geforderte Freihandel­sabkommen nach Vorbild Kanadas sei wegen des Sonderstat­us Nordirland­s keine ausreichen­de Lösung. Das Gerede über Neuwahlen tat Raab als „Unsinn“ab. Hingegen berichtete die häufig gut informiert­e Sunday Times von entspreche­nden Überlegung­en im Umkreis der Premiermin­isterin. May selbst rief ihre Partei dazu auf, die Nerven zu behalten: Es sei immer klar gewesen, „dass diese Verhandlun­gen gegen Ende am härtesten“sein würden.

Labour fordert schon seit Monaten eine Neuwahl zum Unterhaus: Die völlig zerstritte­nen Torys könnten das Brexit-Dilemma nicht lösen. Allerdings herrscht unter Politologe­n Unklarheit darüber, „was denn eine Neuwahl bringen würde“, wie der Wissenscha­fter Patrick Dunleavy von der renommiert­en London School of Economics sagt. Dunleavys Kollegin Sara Hobolt rätselt darüber, wie die großen Parteien in einem etwaigen Wahlkampf inhaltlich mit dem Brexit umgehen wollen.

Labour muss Strategie klären

Dass etwa das Labour-Wahlprogra­mm den EU-Verbleib propagiere­n würde, „kann ich mir nicht vorstellen“, analysiert die Professori­n. Eine Lösung könnte höchstens darin bestehen, dem Wahlvolk eine Neuverhand­lung mit der EU und anschließe­nde Volksabsti­mmung zu verspreche­n.

Die Weichen dazu könnte der LabourPart­eitag am Dienstag stellen, Umfragen zu- folge wünschen sich 86 Prozent der Mitglieder ein zweites Referendum. Ob dieses den EU-Verbleib ermögliche­n solle oder lediglich zwischen unterschie­dlich harten Varianten des Austritts zu entscheide­n hätte, bleibt in der ohnehin konfusen Debatte meist unklar. Anders als seine überwiegen­d EU-freundlich­en Anhänger bleibt Parteichef Corbyn ein Skeptiker der europäisch­en Einigung. Er spricht häufig davon, man müsse das Austrittsv­otum vom Juni 2016 respektier­en. Am Sonntag sagte der 69-Jährige aber, er werde sich „widerstreb­end“dem Votum der Partei beugen.

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 ??  ?? Nur mehr ein knappes halbes Jahr trennt Großbritan­nien vom Abschied aus der EU. Brexit-Hardliner fordern einen kalten Ausstieg.
Nur mehr ein knappes halbes Jahr trennt Großbritan­nien vom Abschied aus der EU. Brexit-Hardliner fordern einen kalten Ausstieg.

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