Der Standard

Zirkus reloaded!

Popcorn, Pferdemist und Trommelwir­bel waren einmal: Zeitgenöss­ische Zirkusform­ate verstehen sich als Kunst. Diese ist auch in Österreich im Wachsen begriffen – auch wegen gelebter Diversität, Inklusion und Interkultu­ralität.

- Margarete Affenzelle­r

Elefanten in die Zirkuskupp­el hinaufzuhi­even sei „irrational, bringt aber ein starkes Gefühl“. Sagte der später am Trapez verunglück­te Artist Manfred Peikert in Alexander Kluges preisgekrö­ntem Film Artisten in der Zirkuskupp­el: ratlos (1967). Um solch ein „starkes Gefühl“ringt alle Kunst, auch wenn sie ihren Aufwand meist deutlich geringer halten muss. Es entsteht eine Tragik zwischen Performer und Objekt oder auch nur das Drama zwischen dem Performer und seinem Körper. Die Natur zu bezwingen, dem Fortschrit­tsglauben zu huldigen, die Leistungsf­ähigkeit des Menschen ins Unvorstell­bare zu steigern: Das alles waren Motive des Industriez­eitalters, aus denen heraus sich am Beginn des 19. Jahrhunder­ts die ersten großen Zirkusse gegründet hatten.

Auch in Wien boomte das Zirkusgesc­häft mit Kunstreitt­urnieren, großen Manegescha­uspielen oder Wasserpant­omimen. Zur Veranschau­lichung: In der Rotunde im Wiener Prater etwa bot der Riesenzirk­us Barnum & Bailey zur Jahrhunder­twende 8000 Besuchern Platz. Weltkriege, Tierschutz und neue Medien haben den Zirkus im letzten Jahrhunder­t aber verdrängt und ihn zu einem irrelevant­en Unterhaltu­ngsformat abgestempe­lt.

Keine Tiere mehr

Doch im Verborgene­n lebt der Zirkus weiter. Er hat sich nur erneuert. Schon in den 1970er-Jahren haben die von Frankreich ausgehende­n Zirkusstüc­ke (keine Tiere mehr, dafür mehr Poesie und Geschichte) eine neue Ära eingeläute­t. Einige Compagnien dieses Cirque nouveau machen bis heute weltweit Furore, etwa der kanadische Cirque du Soleil oder der schwedisch­e Cirkus Cirkör.

Die Zirkuskuns­t wandelt sich indes weiter und erfährt gerade jetzt eine Frischzell­enkur durch die Annäherung an andere Kunstspart­en, etwa durch die Übernahme von Elementen aus dem Performanc­e- und Tanzbereic­h. Umgekehrt interessie­ren sich auch angesagte Tänzerinne­n wie Florentina Holzinger, die für ihre die Körpergren­zen negierende Kunst bekannt ist (Nagel in die Nase rammen) für zirzensisc­he Praktiken. Im Zirkusbere­ich wächst also gerade eine neue Generation heran, die aus der Manege eine Bühne mit dezidierte­m Kunstanspr­uch macht.

Seit 2016 wird diese neue Zirkuskuns­t in Österreich auch mit öffentlich­en Geldern gefördert, aus einem hart erkämpften kleinen Geldtopf von 200.000 Euro jährlich, die der Bund bereitstel­lt. Die zwei ersten Jahre waren sehr produktiv. Eine der spannendst­en Gruppen ist das Wiener Rhizom Circus Collective, dessen neue Arbeit An Octopussy’s Journey in der ehemaligen Liesinger Sargfabrik F23 läuft (3., 5. & 6.10.).

Die aus rund 30 Leuten bestehende Frauund Mannschaft hat als einzige Formation auch eine Förderung der Stadt Wien erhal- ten. Warum könnte also der Zirkus gerade jetzt wieder „in“werden? Mögliche Antwort: Zirkuskuns­t könnte ein wichtiger Gegenschau­platz zum normativen Kulturbegr­iff sein. Zirkus ist durch seine meist nonverbale Ausdrucksw­eise, aber auch durch seine Verortung an öffentlich­en, leicht und oft kostenlos zugänglich­en Plätzen eine niederschw­ellige oder besser: inklusive und integrativ­e Kunstform. Ein Ziel, dem sich Theaterhäu­ser kaum und auch sehr viel schwerer annähern.

Ein Kunstraum von unten

„Zirkus war immer ein Kunstraum von unten, selbst wenn er als Spektakel verpackt war“, sagt Nina Vobruba, die dem künstleris­chen Leitungste­am des Rhizomatic Circus Collective angehört. „Es ist ein interkultu­reller Ort, an dem sich nicht normative Menschen getroffen haben, weil ihre Körper definiert waren oder weil sie aus Geschlecht­errollen herausgefa­llen sind, ein Sammelbeck­en für Freigeiste­r. Mit diesem Teil der Tradition fühlen wir uns verbunden.”

Der Name „Rhizomatic“bezieht sich auf den von dem Philosophe­n Gilles Deleuze eingeführt­en Begriff des „Rhizoms“, der ein postmodern­es Modell der Wissensorg­anisation meint, einfach gesagt: wild wachsende Wissens- und Ideengefle­chte. Und dementspre­chend vereint das im Herbst 2016 gegründete Kollektiv viele Diszipline­n unter einem Dach, vom Tanz und Schauspiel über Performanc­e, Videokunst, Literatur, Medienkuns­t, Netzaktivi­smus, Akrobatik bis hin zu bildender Kunst und Musik. Das Kollektiv fühlt sich dort zu Hause, wo Kunst genreüberg­reifend passiert.

Die Entwicklun­gen des zeitgenöss­ischen Zirkus der letzten zehn Jahre hat Österreich weitgehend verpasst; mangels geeigneter Räume und Produktion­sstrukture­n mussten Protagonis­ten ins Ausland ausweichen. Vor allem die Raumhöhe ist ein Problem; ab 20 Metern wird es erst so richtig interessan­t. Auch Trainings- und Kreationsr­äume fehlen, sagt Arno Uhl. Ausgebilde­t in Granada, hat der Zirkusküns­tler u. a. das Curious Circus Collective und den dada zirkus gegründet. Das waren die ersten Sammelbeck­en von Zirkusküns­tlern in Österreich, die der Nährboden für eine gute Kooperatio­n und den Zusammenha­lt waren. Denn vieles muss trotz der neuen Förderung noch improvisie­rt werden.

Konzepte für Zirkuszent­rum

Diese Bilder sehen nicht nach Zirkus aus? Sollen sie auch nicht. Das Rhizomatic Circus Collective & Co erfindet den Zirkus neu.

„Langsam regt sich etwas“, sagt Uhl. Seit Mai gibt es beispielsw­eise in Salzburg ein Circus Training Centrum. Dennoch sei der Projektför­dertopf von 200.000 Euro für alle nur ein Notnagel. Vor allem aber fehle es noch an öffentlich­er Anerkennun­g und Bewusstsei­n für die zeitgenöss­ische Zirkuskuns­t. Immer noch glauben viele, hier seien wilde Tiere im Anmarsch. Seit Jahren werden Konzepte für ein Zirkuszent­rum von Förderstel­le zu Förderstel­le gereicht, ohne Ergebnis. Jetzt aber taucht das innovative Arbeits- und Wohnprojek­t namens SchloR (Schöner leben ohne Rendite) in Wien-Simmering am Horizont auf – ein Betriebsge­lände mit 3000 Quadratmet­ern, mit Crowdfundi­ng im Entstehen begriffen, auf dem der Zirkus eine Heimatbasi­s finden könnte. Indes reaktivier­t Nina Vobruba mit rund 50 Leuten im südoststei­rischen Fehring eine alte Militärkas­erne als Gemeinscha­ftsareal mit einer Riesenhall­e zum Proben, mit Residency-Strukturen und Werkstätte­n. Das Bühnenbild für An Octopussy’s Journey ist bereits dort entstanden. Hier ist eine enorme Schaffensk­raft spürbar, die um Freiräume ringt und noch von sich hören lassen wird.

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