Zehntausende Studierende demonstrieren in Nicaragua für den Rücktritt Daniel Ortegas. Bislang ohne Erfolg – die Proteste werden von den Behörden gewaltsam niedergeschlagen.
Carlos Lopez ist 20, studiert Systemtechnik an der Universität in der Stadt León in Nicaragua und ist vermeintlicher Terrorist – so zumindest der Verdacht der Regierung. Sein Verbrechen: Wie zehntausende weitere Studierende im ganzen Land engagiert er sich für die Proteste, im Rahmen derer seit Mitte April der Rücktritt von Präsident Daniel Ortega und dessen Frau und Vizepräsidentin Rosario Murillo gefordert wird. Ihnen wird Machtmissbrauch, Klientelismus und ein diktatorischer Regierungsstil vorgeworfen.
Lopez ist nicht Carlos’ richtiger Nachname, sondern jener, der in Nicaragua am häufigsten vorkommt. Doch die Situation in dem mittelamerikanischen Land ist für Studierende, die sich den Protesten anschließen, sehr heikel, erklärt er – deshalb wurde sein Nachname von der Redaktion geändert.
Demo nach Großbrand
Zunächst gingen Studierende gegen die Untätigkeit der staatlichen Behörden im Kampf gegen einen Großbrand im Naturreservat Indio Maíz auf die Straße. Später gegen eine umfassende Reform der Sozialversicherung. Die Situation war aber auch zuvor schon angespannt, der Waldbrand und die Reform brachten das Fass letztlich zum Überlaufen. Immer mehr Menschen schlossen sich den Demos an, doch diese wurden gewaltsam niedergeschlagen. Friedensgespräche, die die einflussreiche katholische Bischofs- konferenz als Vermittler organisierte, brachten keine Einigung. Präsident Ortega erschien nur zur ersten Gesprächsrunde, dann ließ er sich vertreten. Bald kamen die Verhandlungen wieder zum Stillstand.
Währenddessen hat sich die Situation immer weiter verschlechtert. Bereits 512 Menschen wurden laut der NGO Asociación Nicaragüense Pro Derechos Humanos (APNDH) ermordet, mehr als 1200 weitere sind verschwunden und nicht mehr aufgetaucht. Gewalt und Einschüchterungsversuche seitens der Polizei – aber auch durch bewaffnete paramilitärische Organisationen, die als verlängerter Arm der Regierung gelten – nehmen stetig zu. Einem Bericht des Hohen Kommissariats für Menschenrechte der Vereinten Nationen zufolge kam es zu illegalen Festnahmen, Folter und sogar außergerichtlichen Hinrichtungen. Die schweren Menschenrechtsverletzungen seien ein Produkt der langjährigen Erosion der nicaraguanischen Rechtsstaatlichkeit, heißt es in dem Bericht weiter.
Von Einschüchterungen kann auch Lopez berichten. Anfang September drangen neun schwerbewaffnete Polizisten in die Wohnung seiner Familie ein und durchsuchten dort alles. Das einzige Indiz für die Unterstützung der Familie für die Proteste war laut Lopez eine Flagge Nicaraguas. „Sie sehen das als eine Waffe, weil wir sie in den Protesten bei uns tragen“, sagt der Student. Die Behörden nahmen Lopez’ Mutter auf die Polizeistation mit und verhörten sie stundenlang.
Nach der Revolution
Ortega war das Gesicht der sandinistischen Revolution der 1970er-Jahre. Doch er habe die sandinistischen Ideale schon lange vergessen und sei machtgierig geworden, so lautet zumindest die Kritik der Demonstranten. „Er hat unsere sandinistischen Symbole gekidnappt. Wir wollen sie uns zurückholen“, sagt Madelaine Caracas, Kommunikationsstudentin und Mitglied der Coordinadora Universitaria por la Democracia y Justicia (Universitäre Koordinationsgruppe für Demokratie und Gerechtigkeit).
Um das zu erreichen, setzt die Gruppe auf friedlichen Widerstand. Keinesfalls wolle man sich bewaffnen. Der Schrecken des blutigen Bürgerkriegs der 1970er sitzt noch tief. „Meine Eltern hätten nie gedacht, dass ich einmal so etwas wie damals erleben müsste“, sagt die 20-jährige Caracas. Damals erreichten die Sandinisten den Sturz von Diktator Anastasio Somoza Debayle. Heute werfen die Demonstranten Ortega vor, ebenfalls zu einem Diktator geworden zu sein.
Doch die Demonstrationen verlaufen auch vonseiten der Protestierenden nicht immer nur friedlich. Zwischen ihnen und den Behörden kam es in der Vergangenheit auch immer wieder zu Auseinandersetzungen auf den Straßen – brennende Mülleimer und Autos inklusive.
In ihrem Protest hoffen die Demonstranten derzeit auf internationale Unterstützung und Druck auf die Regierung aus dem Ausland. Deshalb machte sich Caracas gemeinsam mit der Soziologin und Universitätsdozentin Yerling Aguilar im vergangenen Juni auf den Weg und reiste durch Europa, um hier auf die Menschenrechtsverletzungen in ihrem Land aufmerksam zu machen.
Laut Plan wollten sie nach einigen Wochen wieder nach Nicaragua zurück. Doch vor ihrem Abflug erhielten sie Drohungen, man würde sie umbringen, sollten sie wieder einen Fuß auf nicaraguanischen Boden setzen. Deshalb ist Aguilar heute in Spanien. Auch ihre Familie musste das Land aus Sicherheitsgründen verlassen und ist nach Spanien nachgekommen. Caracas hält sich derzeit in Costa Rica auf, wo sie sich für die über 25.000 Flüchtlinge einsetzt, die im Nachbarland Schutz suchen.
Geschlossene Universitäten
Die Unis sind derzeit großteils geschlossen, ans Studieren ist hier nicht zu denken. Es gäbe Wichtigeres zu tun, sagt Carlos: „Trotzdem bedeutet es auch, dass wir alle ein Jahr verlieren.“Einige Unis versuchen inzwischen, Onlinekurse anzubieten, etwa die private Universidad Centroamericana (UCA). Öffentliche Unis wollen den gewohnten Betrieb bald wieder aufnehmen. „Das passiert auf Druck der Regierung. Sie will vortäuschen, dass alles wieder normal ist“, sagt Caracas. So sieht es derzeit aber nicht aus. pWofür würden Sie protestieren?
Mitreden: dSt.at/UniProteste